Ich denke, dass ich nicht alleine bin wenn ich beim Betrachten von schwarz-weiß-Fotografien, insbesondere aus dem 19. Jahrhundert, das Gefühl bekomme auf eine gänzlich andere Welt zu blicken. Es scheint fast ein fremder Planet zu sein, mit ganz eigenen Riten und Bräuchen, so wie der dazu passender Optik.
Das liegt vor allem an der industriellen Revolution, die sich zum damaligen Zeitpunkt erst zu entfalten begann und damit nach und nach Traditionen und über Jahrhunderte gereifte Stadtbilder verschlang. Festgehalten wurden ursprüngliche Szenerien höchstens auf Gemälden und Fotografien, die ohne Farbe einen Teil des Bezugs zur Realität einbüßen mussten.
Demenstprechend kam es einem Wunder gleich, als das Schweizer Unternehmen „Orell Füssli“ den sogenannten Photochromdruck im Jahr 1888 patentieren ließ. Mit diesem Verfahren war es nun plötzlich möglich Fotografien in Farbe (14 an der Zahl) serienmäßig abzudrucken. Was könnte da am ehesten in Betracht kommen, als Postkarten in dieser Form herzustellen und damit die schönsten Plätze des jeweiligen Landes zu porträtieren?

Dom und Friedrichsbrücke
Genau dieser Gedanke ließ um die Jahrhundertwende auch in Deutschland einen Boom entstehen, aus dem sehr viele Abbildungen hervorgegangen sind, die uns einen interessanten Einblick in die „gute alte Zeit“ gewähren. Und genau hier ist der kleine Wermutstropfen zu finden. Da es sich großteils um Bilder für Tourismuszwecke handelt, werden dunkle Kapitel der Geschichte, wie die teils katastrophalen Arbeitsbedingungen der Unterschicht, Antisemitismus (auch schon im Kaiserreich ein eklatantes Problem) sowie soziale Unruhen gänzlich ausgeblendet. Was bleibt sind Idyllen im wahrsten Sinne des Wortes.
Dies kann dem Prachtband, der diese Bilder eindrucksvoll versammelt, jedoch auf keinen Fall zu Lasten gelegt werden, da die rund 800 Photochrome auf über 600 Seiten ein Bild Deutschlands um 1900 vermitteln, welches durchaus existiert hat und zu recht eine gewisse Faszination mit sich bringt.

Eisenach, Hohe Sonne mit Blick auf die Wartburg
Diese sind einer Rundreise gleich in einer gewissen geografischen Chronologie angeordnet. Angefangen bei Berlin, der Nord- und Ostseeküste, über die am Rhein gelegenen Städte, den Schwarzwald bis hin nach Bayern. Dabei begegnet der Betrachter monumentalen Schlössern und Burgen, ländlichen Gebieten, wie entrückt wirkenden Straßenszenen, sowie schier unfassbar schönen Naturlandschaften, die einem Märchen entstammt sein könnten. Es ist kein Wunder, dass sich eine Vielzahl an Kreativen in das Herz Europas verirrte. Romantiker wie Lord Byron konnten hier der Natur so nah sein, wie sonst kaum an einem anderen Ort. Autoren wie Mark Twain wurden durch ihre Reisen auch nachhaltig in ihrem Schaffen geprägt und Künstler ergötzten sich an der Inspiration, die im Überfluss vor ihren Füßen lag.
Auch heute noch kommt man aus dem Staunen kaum mehr raus, kann fast nicht glauben, dass solche Orte existiert haben könnten und verfällt in eine Art Wehmut, da all die dargestellte Schönheit in ihrer Pracht unwiederbringlich verloren ist.
Neben den heutzutage längst zerstörten Gebieten, ziehen vor allem die uns besonders vertrauten Abbildungen ihre Aufmerksamkeit auf sich. In meinem Fall wäre es die Stadt München, die zwar ihre klassischen Charakteristika beibehalten hat, aber vor über 100 Jahren eine gänzlich andere Ausstrahlung besaß, als es heute der Fall ist. Es fühlt sich fast so an, als würde man durch dieses Buch in ein Paralleluniversum blicken und genau das macht es zu einer lohnenden Anschaffung. Es bietet die Möglichkeit in die Vergangenheit des eigenen Landes zu reisen und sich selbst auszumalen, wie das heutige Deutschland aussehen würde, wenn es nicht seine Identität und Kultur, die es sich mit Architektur und Landschaften aufgebaut hat, mit dem 2. Weltkrieg in den Abgrund gestoßen hätte. Hier kommen sowohl Leser mit großem Interesse an Geschichte als auch Fans der Foto-Kunst auf ihren Geschmack.

Schloss Neuschwanstein, Schlafzimmer mit Bildern aus der Tristan-Sage
Das Buch kann bei TASCHEN bestellt werden.
Ist es nicht schade, dass man nicht einfach zurückreisen kann, um sich alles genau anzuschauen?
Aber du hast recht. Schwarz-Weiß erscheit einem so fremd und unwirklich!
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