München der 1970er Jahre. Ein Ort mit dem man, wenn schon nicht das Oktoberfest, zunächst die Schickeria mit all ihren amüsanten aber auch dekadenten Seiten assoziiert. Eine Gemeinschaft in der Geld und Schampus fließen, Prestige und Sex Hand in Hand gehen und der Lokalpatriotismus auf eine ganz eigene Art zelebriert wird. In den Augen einiger Menschen ist diese oberflächliche Melange, trotz nicht vorhandener finanzieller Mittel, das anvisierte Lebensziel. Ob man hierfür über die eigenen Verhältnisse lebt und Freunde und Familie vergrault, scheint im so manchem narzisstischen Fiebertraum nachrangig zu sein, selbst wenn ein Absturz unvermeidbar ist.
Genau das ist dem Vater von Uli Oesterle, Autor und Künstler hinter dem bei Carlsen erschienene Band „Vatermilch: Band 1 – Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss“ widerfahren. So verließ er hochverschuldet und alkoholkrank die Familie, rutschte zeitweise in die Obdachlosigkeit und blieb seinem Sohn bis zu seinem Lebensende fremd. Aufgrund des damals sehr jungen Alters, blieben dem Autor nur bruchstückhafte Erinnerungen und später zu Ohren gekommene Gerüchte, um das Bild eines Mannes zu rekonstruieren, den er nie wirklich kannte. Trotzdem oder gerade deshalb versucht er nun Jahre nach dem Tod seines Vaters dieser Person näher zu kommen, indem er seinen Weg in vier Bänden, von denen der erste nun vorliegt, nachzeichnet. Inspiriert ist der Inhalt dabei zwar von realen Ereignissen, die vorhandenen Leerstellen in der Realität werden aber mit Erfundenem aufgefüllt. Dabei hat Oesterle generell keinen Anspruch an eine realitätstreue Genauigkeit, sondern möchte neben dem sehr persönlichen Aspekt bei der Erstellung der Graphic Novel, die Leser auch unterhalten. Das gelingt ihm, indem er zwar reale Rahmenbedingungen wie den Alkoholexzess, das Zurücklassen der Familie und den Absturz beibehält, aber spannende Aspekte wie einen tödlichen Autounfall und Interaktionen mit der Münchner Schickeria-Szene und dem Obdachlosen-Milieu einfließen lässt. Dadurch wird aus einer intimen Familientragödie schnell eine facettenreiche Handlung mit Elementen des Krimis, die vor allem durch eine starke Authentizität zu überzeugen weiß.
So beginnt die Story gleich mit einigen Eckpunkten der Charakterisierung von Rufus Himmelstoss, der Vaterfigur in der Handlung, der zwar aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend sein täglich Brot als simpler Markisenvertreter verdient, sich aber zu Höherem berufen fühlt. Das versucht er in erster Linie sich selbst zu beweisen, indem er in angeheitertem Zustand Kundinnen verführt, seinen „Freunden“ und Kollegen einen überbrodelnden beruflichen Erfolg und seiner zuhause alleine mit dem Kind sitzenden Frau eine dichte Auftragslage vorgaukelt. Zeitgleich stürzt er sich nachts in die glitzernde Welt der Schickeria, lässt auf pump Runden an Alkohol springen, zieht wie nebenbei Koks und präsentiert sich vor unbedarften Frauen als Macher. Daher kommt es, zumindest für Umstehende, nicht überraschend als das Finanzamt einen fünfstelligen Schuldenberg vorlegt und eine unter Alkoholeinfluss durchgeführte Autofahrt zum großen Fiasko und in der Quintessenz zum Bruch mit der Familie und Gesellschaft führt.
Die Geschichte wird dabei durch Kapitel aus der Gegenwart aufgebrochen, die das Leben von Victor, dem nun erwachsenen Sohn von Rufus porträtieren. Dieser hat inzwischen selbst Frau und Kind, aber leider auch die ein oder andere Verhaltensweise seines Vaters übernommen. Zwar bricht der offensichtliche Narzissmus seines Erzeugers nicht so extrem heraus, aber einzuhaltende Abmachungen mit seiner Frau und einen gesunden Umgang mit Alkohol nimmt auch er nicht allzu ernst. Das sind Erkenntnisse, die Victor schon bald selbst wahrzunehmen beginnt und diese dabei in einem Zwiegespräch mit einer von ihm erfundenen Comic-Figur (er arbeitet als Comic-Künstler) thematisiert. Der hier aufgemachte Twist ist die Tatsache, dass obwohl Victor offensichtlich das Alter Ego Uli Oesterles ist, die eben erwähnte Comicfigur eine Karikatur des realen Künstlers sein soll, die sogar den selben Namen trägt. Mehr Meta geht nicht. Dadurch schafft er es nicht nur den Umgang mit der fehlenden Vaterfigur, sondern auch die an sich selbst gerichteten Zweifel in einem Diskurs zu verarbeiten. Ein mutiger Schritt, da eine surreale Ebene aufgemacht wird, die aber nie deplatziert wirkt, sondern sich perfekt in die einordnenden Kapitel der Gegenwart fügt.
Dabei schafft es Oesterle all seinen Figuren Seele und damit Authentizität einzuhauchen, die den Leser mitfiebern, lachen und leiden lassen. Das ist vor allem deswegen ein kleines Kunststück, da kein Charakter auf einer einzelnen Person aus der Realität basiert. So ist Rufus zwar offensichtlich Ulis Vater Peter Oesterle nachempfunden, seine vor Narzissmus strotzenden Charakterzüge, in denen echte pathologische Merkmale zu entdecken sind, wurden aber von mehreren Menschen inspiriert, die der Autor im Laufe seines Lebens kennenlernen „durfte“. Unterstrichen wird die Authentizität durch die meisterhaften Zeichnungen und die damit verbundene, stets greifbar wirkende Gestik und Mimik der Charaktere.
In der Gesamtheit ist „Vatermilch: Band 1 – Die Irrfahrten des Rufus Himelsstoss“ daher nicht nur eine definitive Kaufempfehlung, sondern eine Produktion, die qualitativ zu den besten Veröffentlichungen 2020 im deutschsprachigen Raum gezählt werden darf. Nicht ohne Grund dürfen sich Uli Oesterle und Carlsen über die schon zweite Auflage in den Regalen der Republik freuen, die sicherlich auch glückliche Abnehmer finden wird. Die Vorfreude auf die drei weiteren Bände der Reihe wird bei ihnen mit Sicherheit mindestens genauso groß sein wie beim Autor dieser Zeilen.
Vatermilch: Band 1 - Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss
Verlag: Carlsen
Autor: Uli Oesterle
Zeichner: Uli Oesterle
Format: Hardcover
Seitenzahl: 128
Preis: 20 EUR