[Rezension] Jan Böhmermann: Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020 (Kiepenheuer und Witsch)
Jan Böhmermann ist ein Name, den man spätestens kennt, seit sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2016 zum Richter über guten und schlechten Humor aufgeschwungen hat. Damals wurde in Böhmermanns Sendung „Neo Magazin Royale“ ein Schmähgedicht als Reaktion auf Erdoğans Umgang mit humoristischer Kritik vorgetragen. Grund genug für den autokratisch herrschenden Staatsmann die Justiz auf den deutschen Moderator und Comedian zu hetzen und ihm damit im Nachgang einen immensen Popularitätsschub zu verschaffen.
Doch es wäre unfair ihn auf diese Aktion zu reduzieren, während zahlreiche weitere Coups auf sein Konto gehen, die irgendwo zwischen politisch und sozialkritisch angesiedelt sind und dabei einen ganz eigenen Humor bedienen, der jedoch den Nerv vieler seiner Fans trifft. Dabei schafft er es trotz einer eigenen Sendung und eines Podcasts („Fest & Flauschig“ mit Olli Schulz), der zeitweise das weltweit erfolgreichste Format auf Spotify war, seine Person gekonnt hinter einer Kunstfigur zu verstecken, bei der man sich nie sicher sein kann, welche Aussage ernst oder als Spaß gemeint ist. Dadurch kamen in seiner gesamten Karriere nur sehr wenige private Details an die Öffentlichkeit und der Fokus blieb auf seinem Werk.
Der einzige Ort, an dem regelmäßig der echte Böhmermann zu erahnen ist, ist die Social Media-Plattform Twitter, auf der er seit 2009 und damit schon lange vor seinem Durchbruch aktiv ist. Ein Netzwerk, welches zum damaligen Zeitpunkt nur wenigen Nutzern in Deutschland bekannt war und von Anfang an die bunte Mischung aus Journalisten, Politikern, Personen des öffentlichen Lebens, Entertainern, Trollen und den einfachen Leuten mit einem Faible fürs Socializing bestand. In diesem Sinne eine kleine Parallelwelt, die einige Jahre später in den Händen von Donald Trump sogar zu einem Machtinstrument werden sollte.
Hier tobt sich auch der Autor zunächst mit Blödeleien (sein erster Tweet am 16. Januar 2009, 19:34 Uhr: „Hunger!„) aus, bevor seine ersten Interaktionen mit dem Politik- und Medienbetrieb beginnen und sich gezielte mit Humor verpackte Kritik einschleicht. Immer mehr Menschen finden Gefallen am regelmäßigen Output und vermehren sich langsam aber sicher in seiner Follower-Liste, bis sie mit jeder seiner Aktionen geradezu exponentiell wächst und ihm laut aktuellem Stand 2,2 Millionen Menschen beschert, die regelmäßig seine Aussagen lesen. Mit dieser Größe kommt offensichtlich auch eine Verantwortung zustande, da sich zwischen Gag und Provokation immer wieder ernste Töne mischen und Kritik sich ab einem bestimmten Punkt fast ausschließlich auf Menschen mit großer Reichweite bezieht. Ein Millionenpublikum kann nämlich durchaus auch zur Waffe werden und dieser Umstand ist Böhmermann bewusst.
Mit all diesen Fakten im Hinterkopf kam es durchaus überraschend, als er ankündigte, ein Buch veröffentlichen zu wollen, welches sage und schreibe 25.800 seiner Tweets beinhaltet und den Zeitraum zwischen 2009 und Ende Februar 2020 und damit dem Ausbruch von Corona in Europa abdecken soll. Der Gedanke, dass hier einfach das Internet ausgedruckt und dann monetarisiert werden sollte, liegt da garnicht so fern und doch liegt man mit dieser Einschätzung nur bedingt richtig.
Das seit dem 10. September bei Kiepenheuer & Witsch vorliegende Buch „Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020“ beinhaltet tatsächlich die besagten Tweets, aber schon nach den ersten paar Seiten bemerkt man die wahre Stoßrichtung dieser Veröffentlichung. Wie in einer kommentierten wissenschaftlichen Ausgabe, werden Aussagen in den zeitlichen Kontext gesetzt, in dem sie gefallen sind. Dadurch entfalten selbst auf den ersten Blick banale Witze oder Antworten plötzlich eine ganz eigene Dynamik, die den Blick auf eine Chronik unserer Gesellschaft in den letzten 11 Jahren frei gibt. Klingt es zunächst hochtrabend, da man zunächst Böhmermann als Autor bei Harald Schmidt kennenlernt und seine Witze auf Kosten von „Promis“ bis zum Schluss über seine Timeline verteilt sieht, wird der Anteil dieser Gags immer geringer und die Auseinandersetzung mit politischen Entwicklung immer präsenter.
Wie in einer Zeitmaschine erinnert man sich Seite für Seite an schöne und schreckliche Ereignisse, an längst vergessene Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit standen, soziale und politische Scheidewege und vieles mehr. Dabei scheint Böhmermann wirklich viel Arbeit in die Einordnung gesteckt zu haben, denn auch Tweets, die oberflächlich keinen Kontext haben bzw. im Nachgang nicht von alleine zugeordnet werden können, werden mit einer Erklärung von wenigen Sätzen bis ganzen Abschnitten versehen.
Man geht in das Jahr 2009 mit dem ersten afroamerikanischen Präsidenten der USA, hangelt sich an mehr oder weniger großen Events entlang, bis die Taktzahl plötzlich anzieht und man nicht genau weiß, ob die Welt sich angefangen hat plötzlich schneller zu drehen oder ob der Autor sich inhaltlich mehr in das Weltgeschehen einbringt. Flüchtlingskrise, Anschläge, Nazis in den Parlamenten und auf den Straßen, Donald Trump und als Abschluss die uns bis heute beschäftigende Corona-Pandemie. Man blickt verwundert auf die gelesenen Kapitel zurück und begreift, dass dieses Buch bzw. all die Kommentare zum beschriebenen Geschehen im Rahmen ihrer ursprünglichen Entstehung zwar nur spontane Äußerungen eines Mannes am Puls der Zeit sind, sich aber in der gesammelten Rückschau in nichts anderes als eine moderne Chronik des letzten Jahrzehnts manifestieren. Dabei wird zeitgleich ein Brückenschlag aufgemacht, da ein modernes Mittel der Kommunikation und Interaktion in ein klassisches Medium gegossen wird, womit wiederum auch Menschen außerhalb der Blase namens Twitter erreicht werden.
An dieser Stelle könnte man natürlich fragen, ob es nicht auch sinnvoll gewesen wäre ein „richtiges“ Buch zu schreiben, statt schon publiziertes einzuordnen und auf Papier neu aufzulegen. Versucht man sich jedoch von dieser Seite der Thematik zu nähern, missversteht man die Absicht hinter der Aktion, die in ihrem Kern neben dem Inhalt auch in ihrer Form einen Kommentar zu unserer Gegenwart darstellt. Alles andere wären nichts anderes als Gedankengänge eines Entertainers zu den Dingen, die er mitbekommt. Auf die von Böhmermann gewählte Weise löst sich jedoch das Werk vom Autor und der Kunstfigur, die in „Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020“ mit Menschen interagiert und wird zur Lupe, mit der wir 11 Jahre unseres Lebens in der Rückschau betrachten.
In diesem Sinne eine absolute Empfehlung, die überrascht, zum nachdenken anregt und sich nicht nur für Fans von Jan Böhmermann als interessante Lektüre eignet.
Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020 Verlag: Kiepenheuer & Witsch Autor: Jan Böhmermann Format: Hardcover Seitenzahl: 464 Preis: 22 EUR (E-Book: 18,99 EUR)