Durch unterschiedliche Jubiläen aus dem Hause Marvel oder auch traurige Ereignisse wie dem Tod von Stan Lee, wurde immer wieder Sekundärliteratur auf den Markt gebracht, die die Entstehungsgeschichte von Helden und Schurken rund um die Avengers, die X-Men und viele anderen beleuchtet hat. Was dabei jedoch oft auf der Strecke blieb, war der inhaltlich übergreifende Zusammenhang von Charakteren und Geschichten innerhalb einer fiktiven Historie, die in ihrer Größe und Komplexität einen so gigantischen Mythos darstellt, dass ein Vergleich mit antiken Göttersagen alles andere als weit hergeholt erscheint.
Nun sind Comics, insbesondere aus dem Superhelden-Bereich, über viele Jahrzehnte hinweg reine Spiegelbilder der Popkultur gewesen und nicht wenige Auftragsarbeiten eher glückliche Zufälle als das Produkt eines Masterplans. Hier einen roten Faden zu spinnen, der sich zu einem Netz ausbreitet und selbst die absurdesten Nebenfiguren mit riesigen Events verknüpft, ist dementsprechend eine echte Herkules-Aufgabe, doch mit Top-Autor Mark Waid (Avengers) und dem Ausnahmekünstler Javier Rodríguez (Spider-Man) hat sich ein Team zusammengefunden, dass sich tatsächlich an diese Herausforderung gewagt hat.
Aufgemacht wird die Geschichte dabei durch eine gekonnt gesetzte Rahmenhandlung. Nach einem Kampf zwischen den uralten Celestials sind Franklin Richards, der Sohn von Mr. Fantastic und der Unsichtbaren, und der Weltenverschlinger Galactus am Ende der Zeit zusammengekommen. Das Universum liegt im sterben, soll aber laut Richards nicht in Vergessenheit geraten. Deswegen bewegt er Galactus dazu die gesamte Geschichte des Marvel-Kosmos zu erzählen: vom Urknall, über frühe Zivilisationen bis hin zu den Taten der uns bekannten Helden.
Dabei werden über sechs Kapitel hinweg reale Mythen, politische Wendepunkte und soziale Umbrüche akribisch aufgeschlüsselt und in den Kontext von Göttern, Mutanten, Aliens und aus Zufall entstandene Helden gesetzt, ohne das Gefühl aufkommen zu lassen, einem Bewusstseinsstrom ausgesetzt zu sein. Tatsächlich balanciert der Autor nicht selten auf der Schneide in simples Name-Dropping zu verfallen, doch da dieser Eindruck nie dominiert, erscheint die Handlung wie beabsichtigt als Erzählung, die man so oder so ähnlich auch in realen Handbüchern zu historischen Ereignissen finden könnte. Manches lässt sich in einem Satz, anderes über Seiten hinweg beschreiben und gibt einem trotzdem jederzeit das Gefühl, dass alle Ereignisse ihre Relevanz haben und durch ihr Ineinandergreifen erst das Marvel-Univerum zu dem machen, was es heute ist.
Auf der visuellen Ebene geht Rodríguez keine Experimente ein und liefert mit seinem für den Superhelden-Bereich nahezu perfekt passenden Stil, die Möglichkeit sich auf die extrem große Masse an Informationen einzulassen, ohne den Leser durch abstrakte Ausflüge herauszureißen. Darüber hinaus schafft er es mit der Konzeption seiner Panels, die keinem festen Muster folgen, sondern sich in den Dienst der Handlung stellen, sowohl in einem Nebensatz abgearbeitete Ereignisse, als auch bis heute nachwirkende Geschehnisse passend ins Bild zu setzen. Dabei spielt er natürlich neben eigens kreierten Szenen auch mit ikonischen Darstellungen, die auch der Laie als solche wiederkennt.
Der Geschichte selbst nachgesetzt ist ein sehr umfangreicher, sowie bebilderter Anhang, der das Gelesene mit Verweisen auf die entsprechenden Hefte und Bände versieht. Dadurch können Interessenten sich persönlich auf die Reise in die Historie des Marvel-Universums begeben und die in aller Kürze behandelten Events in aller Ausführlichkeit persönlich nachvollziehen. Es sollte jedoch erwähnt werden, dass trotz des vorliegenden Gesamtüberblicks ein Griff zu „Die Geschichte des Marvel-Universums“ nur für Leser zu empfehlen ist, die sich zumindest eine gewisse Basis an Wissen angeeignet haben, die in der Lektüre des Verlags und nicht in dem cineastischen Output liegen sollte. Andernfalls ist eine Überforderung durch unglaublich viele Details geradezu vorprogrammiert.
In diesem Sinne ist eine Anschaffung für alle Marvel-Fans zu empfehlen, wenn sie sich nicht auf wenige einzelne Heftreihen versteift haben und sich auch für die Vergangenheit ihrer Lieblingshelden interessieren. Sollte dies der Fall sein, handelt es sich beim Kauf von „Die Geschichte des Marvel-Universums“ um einen schönen Überblick, der insbesondere als inhaltliche Ergänzung zum Wissen um Autoren und Künstler sowie die Historie des Verlags herangezogen werden kann.
Die Geschichte des Marvel-Universums Verlag: Panini Comics Autor: Mark Waid Zeichner: Javier Rodríguez Erschienen am: 05.05.2020 Format: Softcover Seitenzahl: 244 Preis: 26 EUR