[Rezension] The Fantastic Worlds of Frank Frazetta (TASCHEN)

Als jemand, der Popkultur in all ihren Facetten und Entwicklungen verfolgt und auch die damit zusammenhängende Historie einbezieht, war ich fast erstaunt zu erfahren, dass es bis dato keine vollumfassende Monografie zu Frank Frazetta gab, die diese Bezeichnung auch verdient. Selbstverständlich wurden Bände über ihn und sein Werk publiziert, ihm ganze Kapitel zu Kunst-Strömungen im 20. Jahrhundert gewidmet, aber eine Rückschau, die der 2010 verstorbenen Legende gerecht wird, gibt es erst seit kurzem bei TASCHEN. Überraschenderweise der selbe Verlag, der schon 1999 ein Buch mit 164 Seiten zu dem Mann herausbrachte, welches aber im direkten Vergleich zum neuesten Titel aus dem Hause, so gut wie verblasst.

Um auch all jene ins Boot zu holen, die mit dem Namen nichts anfangen können, sei gesagt, dass auch sie definitiv Bilder des in Brooklyn geborenen Künstlers kennen. Vor allem die kraftvollen Ölgemälde von Tarzan, Conan, Vampirella und dem legendäreren Death Dealer. Die Interpretation von Conan definiert sogar bis heute den Look & Feel von Filmen, Comics und anderweitigen Formen der Verwertung. Doch auf den 468 Seiten des knapp 5 kg schweren Buchs findet man nicht nur Ikonen, sondern unzählige weitere Arbeiten aus der gesamten Karriere des Amerikaners. Angefangen mit den ersten Gehversuchen im Bereich der grafischen Literatur als Teenager, über Arbeiten für legendäre Publikationen wie EC-Comics bis hin zu legendären Plakat- (z.B. Was gibt’s Neues Pussy?, Der Mann der niemals aufgibt oder From Dusk Till Dawn) und LP-Cover-Motiven (z.B. Molly Hatchet, Wolfmother oder Nazareth) ist die unfassbar lange Karriere von Frank Frazetta in tiefstem Detail illustriert und ausgeleuchtet. Hinzu kommen informative Texte des Experten Dan Nadel und des Künstlers Zak Smith, die vier zunächst chronologisch und später thematisch geordnete Kapitel einleiten. Dementsprechend findet man mit The Fantastic Worlds of Frank Frazetta nicht nur ein visuell opulentes Werk vor, sondern einen Fundus an Informationen, der nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch auch das schwer zusammenzuführende Oeuvre perfekt einzuordnen weiß.

Sollte einem der Zeichner und Maler auch mit diesen Informationen nichts sagen, kann es sein, dass die Rezeption seiner Bilder insbesondere für jüngere Generationen teils schwer zu verdauen ist. Oder wie der Mann es selber formulierte: „Ich bin sehr körperfixiert. In Brooklyn kannte ich Conan, ich kannte Typen, die exakt so drauf waren wie er“. Das heißt im Klartext, dass man hier zunächst einmal auf massive, bedrohliche und Testosteron-gesteuerte Fantasy-Helden trifft, die man heutzutage wohl in ihrem Auftreten als toxisch bezeichnen würde. Auch im Hinblick auf die Darstellung von Frauen wurden hypersexualisierte Körper mit feinen Gesichtszügen, muskulösen Oberschenkeln, gebärfreudigen Hüften, hervortretenden Brüsten und Hintern auf Papier und Leinwand gebracht. Bedenkt man jedoch die Sozialisation und die Zeit in dem Frazetta aufwuchs, relativiert sich die Empörung. Er wurde 1928 als Sohn einer sizilianischen Familie in Brooklyn geboren. Er war Profi-Baseballer in der amerikanischen Liga, Kleinkrimineller und notorischer Verführer mit dem Aussehen eines Filmstars und außergewöhnlichen Begabungen. Seine Umgebung ließ keine andere Sichtweise als „nur der Stärkste überlebt“ zu. Damit einher gingen selbstverständlich Darstellungen von Körpern, die einem geradezu animalischen Idealbild entsprachen. Es sollte jedem ernsthaft an Kunst interessiertem Leser aber fern liegen, aus der Gegenwart heraus Werke der Vergangenheit losgelöst zu kritisieren. Trotzdem soll an dieser Stelle auf die teils delikate Visualisierung von Frank Frazettas Fantasie aufmerksam gemacht werden, die in jeder Hinsicht wegweisend ist, für zeitgenössische Augen aber gewöhnungsbedürftig sein kann.

Alles in allem, handelt es sich bei The Fantastic Worlds of Frank Frazetta (in Zusammenarbeit mit der Frazetta-Familie und den wichtigsten Sammlern erstellt) in meinen Augen um eine Pflichtanschaffung für all jene, die verstehen wollen, wie Popkultur verwoben ist, wie Impulse zur richtigen Zeit am richtigen Ort gesetzt und sich die Reputation von KünstlerInnen in diesem Kontext verändern kann. So hat Frazetta einst billige Pulp-Romane mit Covern bestückt, während 2019 sein Gemälde Egyptian Queen für unfassbare 5,4 Millionen Dollar an den Höchstbietenden einer Auktion in Chicago ging. Dieser Sprung innerhalb von einem halben Jahrhundert sollte schon Grund genug für einen Blick in das Schaffen des Malers sein. Sollte man zeitnah seine Bestellung auf der Website von TASCHEN tätigen, hat man zudem das Glück eines der nummerierten 6.000 Exemplare der sogenannten Famous First Edition sein Eigen nennen zu dürfen.

The Fantastic Worlds of Frank Frazetta
Verlag: TASCHEN 
Sprache: Englisch, Deutsch, Französisch
Herausgeberin: Dian Hanson
Autoren: Dan Nadel, Zak Smith
Format: Hardcover, Leineneinband mit Schutzumschlag, 29 x 39.5 cm, 4.87 kg
Seitenzahl: 468 
Preis: 150 EUR

[Rezension] Marvel Comics Library. Fantastic Four. Vol. 1. 1961-1963 (TASCHEN)

Man kann es sich heutzutage kaum vorstellen, aber Superhelden waren über einen langen Zeitraum alles andere als en vogue. In den Nachkriegsjahren wurden allerhand Genres im Medium Comic bearbeitet – Romanzen, Horror, Krieg…aber unsere allseits beliebten Spandex-Hosen-Träger? In der Versenkung verschwunden oder wie Batman in Pulp-Interpretationen aufgegangen. Man konnte durchaus davon ausgehen, dass Figuren wie Batman und Superman über kurz oder lang zu Randerscheinungen der Jugend- und Popkultur werden würden. Wären da nicht aus heutiger Sicht zwei Männer mit Legendenstatus, die „das Haus der Ideen“ – auch als Marvel Comics bekannt – ab Beginn der 60er Jahre zu der Größe geführt haben, die es heute hat.

In einer Hauruck-Aktion, die das Genre zu neuen Höhenflügen befähigen sollte, schufen niemand Geringeres als Autor Stan Lee und Ausnahmekünstler Jack Kirby ein Team an Superhelden, das den Boden für viele weitere Geschichten, wie z.B. Spider-Man, die Avengers oder die Wiedergeburt von Captain America ebnen sollte. Um diesen Urknall gebührend in Szene zu setzen, hat TASCHEN sich nicht zweimal bitten lassen und mit Fantastic Four. Vol. 1. 1961-1963 einen weiteren Band ihrer beliebten Marvel Comics Library hinzugefügt.

Inhaltlich erwarten den Leser die ersten 20 Hefte um das Team aus Reed Richards / Mr. Fanatastic, Sue Storm / Invisible Girl, Johnny Storm / The Human Torch und Ben Grimm / The Thing, die bei einem Raketen-Einsatz im Weltraum von kosmischen Strahlen getroffen werden und dadurch zu ihren Superkräften und zwangsweise Alter Egos kommen. Das besondere an Konstellation und Erzählweise sind die emotional komplexen Charakterisierungen, die so gar nichts mit stupiden Hau-Drauf-Helden, samt schwarz/weiß-Denke zutun haben. Hier fühlt sich niemand zum Halbgott berufen, sondern zweifelt im Fall der Fälle, ob die übermenschlichen Eigenschaften eher Fluch oder Segen sind. Auch der übliche Ausgangsort der Geschichten ist nicht in einer fremden Welt, sondern mitten in New York City zu finden. Die Stadt die niemals schläft und wohl eine Art Brutstätte für „außergewöhnliche“ Mitmenschen darstellt.

Um die Hefte in ihrem ursprünglichen Glanz erstrahlen zu lassen, kam es erneut zu einer engen Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company (CGC). Das zweite Unternehmen kennen die Sammler unter euch. Für die Unwissenden: CGC bewertet den Zustand (unter anderem) von Comic-Heften und versiegelt diese in Plastik-Hüllen, um den zugeschriebenen Wert beizubehalten. So werden auch die für Millionenbeträge gehandelten Erstauftritte von den Aushängeschildern der großen Verlage unter den Hammer gebracht. Dementsprechend besteht hier ein Zugang zu den am besten erhaltenen Druckexemplaren weltweit. Diese wurden geöffnet und für den höchstmöglichen, authentischen Lesegenuss für die TASCHEN-Ausgabe aufbereitet. Und nicht nur das: Auch Werbeanzeigen, Leserbriefe, Front- und Backcover im Hochglanzformat treten durch ihre Übergröße ins Scheinwerferlicht, während die Storys im Offsetdruck auch haptisch eine Zeitreise ermöglichen.

Neben den Comics selbst, gibt es erneut ein vorangestelltes Essay und einleitende Worte von Hochkarätern. Ersteres durfte der bekannte Marvel-Autor Mark Waid beisteuern, während der ehemaligen NASA-Astronaut Mike Massimino den Leser beim ersten Aufschlagen des Buches an die Hand nimmt. Hinzu gesellen sich auf insgesamt 700 Seiten Originalgrafiken, Fotografien und andere Raritäten.

Wie schon bei den beiden Vorgängerbänden, ist die Anschaffung für Fans mit kunsthistorischem Interesse ein Muss. Ob sich ein Lesegenuss für Neueinsteiger einstellt, sei jedoch dahingestellt. Wie bei anderen Produkten dieser Art, die vor über 60 Jahren veröffentlicht wurden, ist der Erzähl- und Zeichenstil in seiner Qualität zwar unverkennbar, aber für zeitgenössische Comic-Leser potentiell gewöhnungsbedürftig. Es hat sich allein schon in den letzten 20 Jahren so viel auf diesem Feld getan, dass auch Veröffentlichungen aus den 90ern altbacken wirken können. Daher sei Fantastic Four. Vol. 1. 1961-1963 in erster Linie Enthusiasten, kunsthistorisch Interessierten und Sammlern ans Herz gelegt. Zählt man sich zu mindestens einer der Gruppen, gehört dieser Band zwangsweise in das eigene Regal, welches definitiv um zukünftige Veröffentlichungen im Rahmen der Marvel Library erweitert gehört.

Marvel Comics Library. Fantastic Four. Vol. 1. 1961-1963
Verlag: TASCHEN 
Sprache: Englisch
Autoren: Mark Waid, Mike Massimino, Stan Lee
Künstler: Jack Kirby
Format: Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,77 kg
Seitenzahl: 700 
Preis: 150 EUR

[Rezension] Marvel Comics Library. Avengers. Vol. 1. 1963-1965 (TASCHEN)

Jeder Marvel-Fan weiß um die Ursprünge des „zweiten Frühlings“ des Verlags, der mit den Fantastic Four im Jahr 1961 begann und in den Folgejahren mit weiteren Ikonen wie Spider-Man, Ant-Man, Doctor Strange oder Iron Man weiter aufblühte. Zwar waren einige Serien, wie es damals nicht unüblich war, ein Flop, aber das hinderte Künstler und Autoren nicht mit pfiffigen Ideen auch ehemalige Rohrkrepierer in ein neues Rampenlicht zu rücken. Erstaunlicherweise gehörten dazu auch Titel wie der Hulk. Mit diesem Portfolio an fantastischen, schrägen, mutierten aber übergreifend mutigen Helden konnte man nun ab einem bestimmten Punkt so hantieren, dass Leser zwangsläufig auf Charaktere stießen, die sie noch nicht kannten. Stichwort: Gastauftritte. Mal wollte Spidey den Fantastic Four beitreten, mal wurden ehemals befreundete Cape- und Spandex-Träger zu Feinden usw. Doch Stan Lee sah in diesem Gewimmel an übernatürlichen Persönlichkeiten ein größeres Potential, welches es zu entfalten galt.

Deswegen setzte er sich mit dem legendären Zeichner Jack Kirby zusammen und versammelte mit ihm  Iron Man, Ant-Man, The Wasp, Thor und Hulk, um die Avengers zu gründen. Ein Zusammenschluss aus Superhelden, die weniger familiäre als „berufliche“ und moralische Bande miteinander teilten. Zwar gab es hier und da Querelen, Aus- und Einstiege sowie Seitenwechsel aber zusammen schafften sie es immer wieder die größten Superschurken des Universums in die Flucht zu schlagen. Der größte Coup war jedoch einem Charakter neues Leben einzuhauchen, der Jahre zuvor in der Versenkung verschwunden war: Captain America wurde samt einer Erklärung für seine jahrzehntelange Abwesenheit erneut eingeführt und wurde zum Teil der Avengers. Ein Umstand, der bis heute mit Unterbrechungen und Alternativ-Versionen aufgebrochen, aber im Kern Bestand hat.

Genau diese Momente kann man nun dank TASCHEN so authentisch und umfangreich erleben wie nie zuvor, da der Verlag nach Marvel Comics Library. Spider-Man. Vol. 1. 1962-1964 den zweiten Band ihrer brandneuen Marvel Comics Library-Reihe herausgebracht hat: Avengers. Vol. 1. 1963–1965. Wie schon beim Erstling, wurden auch hier die ersten 20 Ausgaben im XXL-Format nachgedruckt. Hierbei wurden in Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company ausschließlich die makellosesten Hefte herangezogen, die der Markt hergibt. Garniert mit modernster Retusche-Technik wird den Lesern schlussendlich eine Qualität präsentiert, die ihresgleichen sucht. Eine visuell bessere, aber zeitgleich authentischere Fassung der ersten Avengers-Hefte gibt es de facto nicht. Um das „reale“ Gefühl aus den 60ern noch greifbarer zu machen, wurde zusätzlich auch die Auswahl des Papiers beachtet. So erstrahlen Cover auf Hochglanzpapier, während einem originalgetreue Rasterpunkte von einem mattem Offsetpapier entgegen springen. Außerdem wurde darauf geachtet, dass auch Leserbriefe und Werbeanzeigen vollständig abgebildet sind, um wirklich jedem Aspekt der Orignal-Vorlage gerecht zu werden.

Auf den 630 Seiten kommt man zudem nicht nur in den Genuss der angesprochenen Geschichten, sondern wird auch mit einem Vorwort von Kevin Feige, seines Zeichens Präsident der Marvel Studios, bedacht. Historisch eingehegt wird der Inhalt darüber hinaus von Autor und Eisner-Award-Gewinner Kurt Busick. Selbstverständlich wird diese kleine Zeitreise mit Originalzeichnen, seltenen Fotos und Dokumenten bebildert.

Wenn es um den Spaß am Lesen der ersten 20 Hefte geht, so muss man sich vor Augen halten, was man hier in den Händen hält. In erster Linie handelt es sich um popkulturell und kunsthistorisch relevante Reproduktionen von Geschichten, die die Basis für eines der erfolgreichsten Franchises aller Zeiten gelegt haben. Sowohl im Kontext der gleichnamigen Filme, als auch im Hinblick auf die weitere Verwertung der Helden dieses Titels. Wenn es um das ausschließliche Storytelling geht, wird der Spaß durch die Lesegewohnheiten eines jeden Käufers bestimmt. Konsumiert man primär Werke der letzten 20 Jahre, wird einem Vieles zwangsläufig altbacken und steif vorkommen, was aber nicht dazu führen muss, dass man keine Lust hat die Abenteuer der Avengers zu verfolgen, um die vielen ersten Auftritte und Konfrontationen für sich selbst erleben zu dürfen. Dies sei vorausgeschickt, da mich Leser nach der letzten Review des Spider-Man Bandes explizit nach diesem Thema gefragt haben.

Hat sich diese Frage jedoch geklärt, spricht nichts gegen eine Anschaffung von Marvel Comics Library. Avengers. Vol. 1. 1963–1965. Es ist nämlich nicht nur ein Sammlerstück für Fans der Charaktere, sondern für jeden Comic-Interessenten und Popkultur-Geek, der die Ursprünge heutiger Auswüchse persönlich ergründen möchte. Sollte man es sogar noch etwas exklusiver mögen, ist ab Ende Juli eine exklusive „Collector’s Edition“ verfügbar, die zwar mit 500€ zu Buche schlägt, aber eine edle Kunstlederbindung, einen eingefasstem ChromaLuxe-Aluminiumprint und einen wunderschönen Schuber bietet. Wer außerdem nie genug vom Marvel-Universum haben kann, der darf sich jetzt schon auf weitere angekündigte Bände aus der Marvel Library freuen: die Fantastic Four und Captain America stehen schon in ihren Startlöchern bereit!

Marvel Comics Library. Avengers. Vol. 1. 1963–1965
Verlag: TASCHEN 
Sprache: Englisch
Autoren: Kurt Busiek, Kevin Feige
Format: Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,44 kg
Seitenzahl: 630 
Preis: 150 EUR

[Rezension] Hokusai. Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji (TASCHEN)

Es gibt Gemälde, die losgelöst von ihrem Entstehungskontext oder dem Vorwissen der Betrachter Assoziationen wecken und Fantasien beflügeln. Geht es noch einen Schritt weiter, exisiteren besagte Werke sogar im popkulturellen Gedächtnis. Dazu gehört definitiv „Die große Welle von Kanagawa“ von Katsushika Hokusai (1760-1849), die weltweit an Wänden, auf Postern, Merchandise-Artikeln und vielem mehr zu sehen ist. Diese Kunst-Ikone scheint allgegenwärtig zu sein und ist doch in ihrer Kontextualisierung für die meisten nicht greifbar. Wer kann sich bei dem Gedanken an das Motiv an die Fischerboote oder den Berg Fuji im Hintergrund erinnern?

Umso schöner ist der Umstand, dass der TASCHEN-Verlag sich der Serie an Farbholzschnitten mit dem Titel „Hokusai. Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji“ angenommen hat, um der Welt den Zusammenhang zwischen Künstler, Entstehung und Popularisierung der Motiv-Reihe, in der sich die besagte „große Welle“ befindet, näher zu bringen. Wobei zunächst geklärt werden sollte, warum der Berg Fuji so besonders ist und es kein Zufall war, als er 2013 zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Neben der fast schon malerischen Pracht, genießt der Ort eine seit vielen Jahrhunderten mystische Anziehungskraft, von der zahllose Schreine und Legenden zeugen. So galt das Besteigen des Fuji im Buddhismus als Ausdruck des Tiefen Glaubens. Als ein solcher Ankerpunkt japanischer Tradition ist der Berg keine moderne Manifestation fernöstlicher Sehnsucht, sondern Teil der urtümlichen Identität dieses Landes. Das sieht man nicht zuletzt an der im vorliegenden Band präsentierten Bilderreihe, die zu einem Zeitpunkt angefertigt wurde, als Japan noch isoliert von der Außenwelt für sich sein konnte. Kein westlicher Einfluss trieb Hokuasi an, sondern die Nachfrage der lokalen Bevölkerung, die sich seine Bilder auch leisten konnte, wenn sie nicht zur höheren Schicht angehörte.

Revolutionär war die Anfertigung aber auch so. Schon zu Lebzeiten berühmt und gefragt, wagte sich Hokusai an eine für die damaligen Umstände ungewöhnliche Perspektive, indem er die dargestellten Menschen in den Hintergrund rückte und sie zum Beiwerk der Naturgewalten und Landschaften machte. Offensichtlich kam diese Herangehensweise so gut an, dass der Titel schlussendlich irreführend ist. Aufgrund der hohen Nachfrage wurden nämlich ganze 46 Holzschnitte angefertigt, die allesamt in dem für TASCHEN typischen XXL-Band zu finden sind.

Um das Erlebnis beim Betrachten der beeindruckenden Werke außerdem noch authentischer zu Gestalten, hat es sich der Verlag erneut nicht nehmen lassen zur traditionell japanischen Fadenheftung zu greifen und die Bilder auf ungeschnittenem, einseitig bedruckten Papier abzubilden. Wer zum Beispiel schon „Hiroshige & Eisen. Die neundsechzig Stationen des Kisokaido“ (ebenfalls bei TASCHEN erschienen) zuhause stehen hat, weiß um die Besonderheit dieser Bindung.

Des Weiteren bleibt es nicht einfach nur beim Genuss von Meisterwerken, sondern man wird als Leser an die Hand genommen, um die Entstehung der einzelnen Holzschnitte zu verstehen, die Inhalte einzuordnen und bisweilen Variationen des gleichen Motivs zu erkennen. Dafür zuständig ist Herausgeber und Autor Andreas Marks, der ostasiatische Kunstgeschichte an der Universität Bonn studierte und der mit einer Dissertation in Japanologie zu Schauspielerdrucken des 19. Jahrhundert promoviert. Außerdem war Marks von 2008 bis 2013 Direktor und Chefkurator des Clark Center for Japanese Art im kalifornischen Hanford. Seit 2013 ist er Mary Griggs Burke Curator of Japanese and Korean Art, Leiter der Abteilung für japanische und koreanische Kunst sowie Direktor des Clark Center for Japanese Art am Minneapolis Institute of Art. In diesem Sinne kann man sich auf die detaillierte Ausführung eines wahren Experten verlassen.

Genau aufgrund dieser Kombination aus beeindruckender Gestaltung der Reproduktionen und einer elaborierten Aufbereitung von Hintergrundinformationen darf „Hokusai. Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji“ in keinem Regal eines Liebhabers japanischer Kunst fehlen.

Hokusai. Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji
Verlag: TASCHEN 
Mehrsprachige Ausgabe: Englisch, Deutsch, Französisch 
Autor: Andreas Marks
Format: Hardcover, 44 x 30 cm, 3,88 kg
Seitenzahl: 224 
Preis: 125 EUR 

[Rezension] Japan 1900 (TASCHEN)

Für viele Menschen, dabei insbesondere Europäer, ist Japan immer noch ein geheimnisvoller Ort am anderen Ende der Welt, der vertraut und doch so fremd wirkt. Als halbwegs kulturaffiner Mensch ist man oft mit den bekannten Exporten Nippons wie Manga, Tee und Sushi konfrontiert. Dabei entsteht das Bild eines Landes, welches oft mehr einer Fantasie, als der Realität entspricht. Die Gründe dafür liegen hierbei weiter in der Vergangenheit als man zunächst annehmen möchte. In der Regierungszeit des Kaisers Meiji (1867-1912) öffnete Japan nach einer zweihundertjährigen Isolation 1868 seine Tore zur Welt und erlaubte damit einen Blick in eine Gesellschaft, die sich losgelöst von politischen und eurozentrischen Trends entwickelte und damit per se ab diesem Punkt ein Faszinosum bildete. In die goldene Zeit des Reisens fallend, gab es nun plötzlich einen Ort, den man ab 1869 in nur 40 Tagen durch den Suez-Kanal oder ab 1900 in nur 17 Tagen durch die transsibirische Eisenbahn erreichen konnte. Man bedenke, dass bis zu diesem Zeitpunkt eine Reise von über einem Jahr eingeplant werden musste, um an dieses Ziel zu kommen. In dem Sinne gleich mehrere Zufälle, die sich zeitlich überlappten und in ihrer Kombination anfingen das Bild Japans zu formen, welches wir bis zu einem gewissen Grad auch heute in uns tragen.

© Former Collection Marc Walter/Photovintage France; Berg Fuji von Suzukawa aus gesehen (1895)

Eben diesem Zeitraum widmet sich der brandneue Prachtband Japan 1900 von TASCHEN, der mit knapp 5,8 kg und einem Umfang von 536 Seiten die unfassbare Masse von mehr als 700 Vintage-Fotografien beinhaltet, die ursprünglich in schwarz-weiß aufgenommen und nachträglich im sogenannten Photochromdruck-Verfahren eingefärbt wurden. Wie schon bei Deutschland um 1900 – Ein Porträt in Farbe und weiteren Veröffentlichungen in dem Stil, sorgt die Färbung dafür, dass die präsentierten Bilder weniger entrückt erscheinen und trotz eindeutiger Stilisierung mehr in der Realtät verankert wirken. Nach wie vor muss man sich fast schon kneifen, wenn man Aufnahmen aus den 1880ern sieht und sich bewusst macht, dass hier die Welt vor 140 Jahren abgedruckt wurde.

© Former Collection Marc Walter/Photovintage France; Yokohama, Kirschblütenbäume bei Nogeyama, Kusakabe Kimbei (1890)

Dabei beschränken sich die beiden Autoren Sebastian Dobson und Sabine Arqué nicht auf die simple Präsentation von Ansichten aus der Meiji-Zeit, sondern ordnen die Bilder thematisch in Kapiteln und aufschlussreichen Kommentaren so ein, dass man gefühlt wie durch einen Reiseführer aus vergangenen Zeiten blättern kann und Sehnsucht nach einem Ort entwickelt, der in dieser Form nicht mehr existiert. Das liegt mitunter an der Tatsache, dass der Westen zu dem Zeitpunkt nur langsam durch Touristen, wirtschaftliche Verflechtungen und politische Öffnung in das Kaiserreich einsickerte. Dadurch erhält man einen Blick auf eine vorindustrielle Nation, die insbesondere im Kontrast zu rauchenden Schornsteinen, Akkordarbeit und aufkommenden Klassenkämpfen geradezu beruhigend wirkt. Natürlich werden bei Fotografien, die primär für den Reisesektor angefertigt wurden die Schattenseiten entweder ausgeblendet oder in einen romantisierenden Rahmen eingehegt. So werden schweißtreibende Feldarbeit und Prostitution sicherlich nicht dem ländlichen Charme bzw. dem edlen Look entsprochen haben, der einem in diesem Buch begegnet. Das gilt auch für quasi anthropologische Abbildungen der Ainu, die indigenen Ureinwohner Japans, die im Laufe der Zeit bis auf die nördliche Insel Hokkaidō zurückgedrängt wurden. Nicht zu vergessen sind auch die erste Schritte auf dem Weg zur Imperialmacht, die sich fast in einer Zwangsläufigkeit durch die Öffnung gen Westen ergaben. Gut zu erkennen an zusätzlich abgebildetem Material wie Postkarten, Speisekarten, Gepäcketiketten und vielem mehr. So erschließt sich aus der Betrachtung nicht zwangsläufig die Tragik hinter den Abbildungen. Dafür helfen entsprechend die erwähnten Texte dabei Hintergründe zu erforschen und historische Zusammenhänge zu begreifen. So kann man ästhetisch atemberaubenden Landschaften, exotische Kleidung und alte Traditionen aufnehmen, ohne Gefahr zu laufen einer Verklärung aufzusitzen.

© Former Collection Marc Walter/Photovintage France; Sumo-Kämpfer beim Ekōin Tempel, vermutlich von Adolfo Farsari (1841–98) (1886)

Nichtsdestotrotz handelt es sich primär um einen westlichen Blick auf das Japan jener Zeit, der viel von Inszenierung und einem fast unwirklichen Idyll geprägt ist. Das haben die Ersteller der Fotografien jedoch auch nie zu kaschieren versucht und präsentieren in dem Sinne ein Wunschbild, welches noch so weit in der Realität verankert ist, dass es dem Fernweh keinen Abbruch tut. So kann man sich Seite für Seite auf eine Reise von Nagasaki, über die Insel Miyajima, bis hin nach Tokio und Hokkaidō machen und dabei unterwegs noch viel mehr entdecken.

In diesem Sinne ist Japan 1900 die optimale Anschaffung für all jene, die regelmäßig Fernweh haben, sich für Vintage-Fotografie in edler Aufmachung begeistern können und alle, die gerne einen vermeintlich direkten Blick auf die Vergangenheit werfen wollen.

Japan 1900
Verlag: TASCHEN 
Mehrsprachige Ausgabe: Englisch, Deutsch, Französisch 
Autoren: Sebastian Dobson, Sabine Arqué
Format: Hardcover, 29 x 39,5 cm, 5,80 kg
Seitenzahl: 536 
Preis: 150 EUR 

[Rezension] Colonel Weird – Cosmagog (Splitter)

Wenn es eine aktuelle Comicbuchreihe gibt, die sowohl Witz und Ernst als auch Hommage und Originalität zu vereinen weiß, dann wäre es defintiv Black Hammer vom kanadischen Tausendsassa Jeff Lemire. Jeder Band der Hauptreihe und der inzwischen zahlreichen Spin-Offs ist für sich eine emotionale Achterbahnfahrt, die insbesondere im Kontrast zu den bewusst kitschigen Namen und Looks im Herzen zu treffen weiß. Jedem Charakter wurde von vornherein eine unfassbare Tiefe mitgegeben, die erklärt, warum man ihnen auch individuell veröffentliche Abenteuer mit unterschiedlichen Zeichnern geschenkt hat. Eine der aktuellsten Auskopplungen ist hierbei „Colonel Weird – Cosmagog„.

© Splitter

Nach den einschneidenden Ereignissen der Hauptreihe hat Colonel Randall Weird die sonderbare Farm verlassen und begibt sich auf die Suche nach etwas, was er vergessen hat. Dabei weiß er weder was es sein könnte, noch ob es von Relevanz ist. Ihm ist nur bewusst: Es ist für IHN wichtig. Zeitgleich könnte es die Antwort auf alle Fragen sein, die sich der durch Raum und Zeit Springende zuhauf stellt. Bei seiner Reise bewegt er sich über die Jahrzehnte seines Lebens hinweg. Mal in einer unnatürlichen Reihenfolge, mal aus einem seltsamen Blickwinkel, mal sogar im Gespräch mit sich selbst in jungen Jahren – in jedem Fall versucht er dabei bei Verstand zu bleiben (oder was davon übrig ist), damit er all jene die er liebt vor einem zersplitterten Universum bewahren kann.

Offensichtlich stand dabei Dr. Manhatten aus der Watchmen-Reihe Pate für die Fähigkeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig wahrnehmen zu können (abzüglich der Superkräfte). Im Kontext von Black Hammer scheint es zunächst nicht verwunderlich, da die meisten Charaktere entweder konkrete Anleihen an bekannte Figuren oder zumindest Epochen in der Comic-Kunst in sich tragen. Was Lemire jedoch schafft, ist dieser Hommage eine emotionale Tiefe beizufügen, die selbst mehrschichtigen Original-Charakteren anderer Verlagshäuser nicht in dem Ausmaß vergönnt ist. Colonel Weird steht geradzu prototypisch für diese Art Geschichten zu schreiben. So nimmt er wie erwähnt alles wahr, ist jedoch emotional nicht entrückt, sondern durch sein Wissen um alles und jeden gerdazu gebrochen, da er daran verzweifelt einen Unterschied zu machen. Dadurch wirkt er eher wie ein Mensch, der seine Gabe als Bürde empfindet und nicht wie ein allwissender Halbgott.

© Splitter

Bei einem Comic kann eine Geschichte noch so emotional sein, aber ohne den passenden Künstler kann die Reise in das Herz der Leser schnell verpuffen. Daher bin ich umso glücklicher zu sehen, dass Jeff Lemires Wahl bei diesem Spin-Off auf Tyler Crook fiel. Der Künstler schafft es mit seinem meisterhaften Umgang mit der Mimik der Charaktere und dem fließenden Spiel bezüglich des Panel-Aufbaus etwas zu transportieren, wofür oft nichtmal Worte nötig sind: Freude, Schmerz, Liebe oder Angst. In Kombination mit den kurzen aber genialen Dialogen entfalten die Bilder dann noch mehr Tiefe und führen gemeinsam zu dem Ergebnis der Anfangs genannten Achterbahnfahrt der Emotionen.

© Splitter

In diesem Sinne schließt „Colonel Weird – Cosmagog“ qualitativ nahtlos an die bisher erschienen Veröffentlichungen aus dem Black Hammer-Universum an und beweist erneut, dass Tiefe auch im ungewöhnlichen Gewand an die Leser herangetragen werden kann. Sowohl die Hauptreihe, als auch die Nebengeschichten gehören nach wie vor in jedes gut sortierte Comic-Regal.

Colonel Weird: Cosmagog
Verlag: Splitter 
Künstler: Tyler Crook
Autor: Jeff Lemire
Format: Hardcover
Seitenzahl: 112 
Preis: 19,80 EUR 

[Rezension] Requiem (Zwerchfell Verlag)

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich bis dato nichts von Albert Mitringer gehört habe, obwohl sein Debüt LILA aus dem Jahr 2017 (welches zeitgleich seine Diplomarbeit an der Kunstschule Wien darstellt) durchwegs wohlwollend von Fachpresse und Leserschaft aufgenommen wurde. Nachdem mir sein neustes Werk Requiem (erschienen beim Zwerchfell Verlag) ans Herz gelegt wurde, frage ich mich ich mich nun aber ernsthaft wie oft mir Indie-Perlen entgangen sind, weil sie nicht laut beworben oder mir direkt vom Verlag in den Briefkasten geworfen wurden. Asche auf mein Haupt und insbesondere in diesem Fall. Warum, erfahrt ihr hier im Detail:

Inhaltlich befinden wir uns in einer seit langem entvölkerten Fantasie-Welt, die durchzogen von Dämonen und Monstern kaum Leben in sich birgt und Menschen nur mehr ein Echo vergangener Tage sind. Hier erwacht in der Nähe einer schon lange gefallenen Armee ein verstorbener Krieger, nachdem ihn eine gemeine Wanderkrähe berührt. Nun wieder bei Bewusstsein, spürt er das Bedürfnis mehr über sein altes Leben erfahren zu wollen und folgt besagtem Vogel in der Hoffnung sich erinnern zu können. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die einjährige Wanderschaft des toten Ritters, die in vier nach den Jahreszeiten benannten Kapiteln, beginnend mit dem Sommer, beschrieben wird. Auf diesem Weg setzt sich nicht nur wie geplant sein altes Leben wieder in einer Erinnerung zusammen. Es werden Schlachten geschlagen, Diskussionen mit Dämonen geführt, mythische Wesen eingeführt und Freundschaften geschmiedet. Dabei sind dafür nicht viele Worte nötig, die ohnehin rar gesät, dafür aber mal knackig prägnant, mal malerisch in der Poesie verortet das Abenteuer genau an den Punkten unterstreichen, an denen sie nötig sind.

© Zwerchfell

Den Rest erledigen die wunderschönen, ausschließlich in Handarbeit gefertigten Tusche-Bilder, die einen angenehmen Kontrast für die an digitale Werke gewöhnten Augen bieten. Das soll kein Abwägen der Qualität beider Ansätze sein, aber bei einem sich durchgesetzten Standard sind klassisch angefertigt Schraffuren, eindeutig in sehr langer Arbeit und mit ruhiger Hand entstandene Landschaften und der rohe Charme des irgendwo zwischen Holzschnitt und Manga verorteten Stils eine angenehme Abwechslung beim lesen. Apropos Manga: Trotz der im Kern sehr europäischen Geschichte, merkt man eindeutig die Einflüsse ostasiatischer Steckenpferde wie eine organische und energiegeladene Dynamik bei Kämpfen, mutige Panel-Perspektiven und die typisch überdimensionale Darstellung unterschiedlichster Elemente. Trotzdem bleibt ein sehr eigener Strich erhalten, der viel trockenen Witz aber auch ruhige Momente gut zu transportieren weiß. Dadurch werden die Figuren trotz des erwähnten, eher zurückhaltenden Einsatzes von Rede so sympathisch präsentiert, dass man als Leser von Anfang an mitfiebert und mit Spannung verfolgt wohin die Reise des toten Ritters geht.

© Zwerchfell

Was Requiem davon losgelöst außerdem besonders macht, sind die opulenten Splash pages, die zum innehalten und entdecken einladen. Jede dieser Seiten brodelt geradezu über vor Details, von denen sich bei jedem durchblättern mehr zu zeigen scheinen. Ein Punkt an dem besonders deutlich wird, dass das Medium Comic für sich selber steht und der Genuss eines Bandes auf mehreren Ebenen und hierbei teils losgelöst voneinander erfolgen kann.

In diesem Sinne ist Albert Mitringer, der mit Anfang 30 und erst seinem zweiten Werk am Beginn seines Schaffens steht, ein richtiger Wurf gelungen, der sowohl inhaltlich als visuell überzeugt und Hoffnung auf einen Nachfolgeband weckt. Alles in allem sei Requiem daher jedem ans Herz gelegt, der klassisches Comic-Handwerk und gutes visuelles Storytelling zu schätzen weiß. Beides ist hier zu finden und sollte in keinem gut bestückten Comic-Regal fehlen.

© Zwerchfell
Requiem
Verlag: Zwerchfell Velag 
Autor und Zeichner: Albert Mitringer
Format: Hardcover, 21x28cm
Seitenzahl: 186 
Preis: 25 EUR 

[Rezension] Das Star Wars Archiv. 1999–2005 (TASCHEN)

Wer sich nur im Ansatz mit dem Fandom um Star Wars beschäftigt, weiß um den schweren Stand der Prequel-Trilogie, die viele als seelenloses CGI-Spektakel verschreien, welches nicht im Ansatz an das Original heranreicht. Trotzdem muss hier eine Lanze für die Episoden I bis III gebrochen werden, die für eine ganze Generation als Einstieg in die Abenteuer „[…] in einer weit, weit entfernten Galaxis“ fungiert haben. Als neunjähriger habe ich im Kino mit großen Augen dem Podracer-Rennen zugesehen, über die Slapstick-Einlagen von Jar Jar Binks gelacht und bei dem finalen Laserschwertkampf zwischen Obi Wan, Qui Gon und dem düsteren Darth Maul mitgefiebert. Damals konnte es mir nicht gleichgültiger sein, dass Fans der ersten Stunde die einen Dinge vermisst und die anderen verflucht haben. Ich war gebannt und als Teenager bei den beiden Fortsetzungen schon am ersten Kino-Tag im Saal, um die Vorgeschichte der Star Wars-Saga geradezu zu inhalieren.

Ich kann garantieren, dass es nicht nur mir so ging. Millionen junger Leute haben erst durch diese Neuauflage Interesse daran bekommen die alten Streifen aus den 70ern bzw. 80ern anzusehen und damit den Kreis dieser Geschichte zu schließen. Umso mehr freut es mich, dass TASCHEN nach ihrem gigantischen Werk zur ursprünglichen Trilogie nun auch der Vorgeschichte einen eigenen XXL-Band spendiert hat. Zwar war ich mir fast schon sicher, dass diese Fortsetzung kommen würde, aber die Angst, dass Puristen reinreden und das Projekt verhindern würden war bei mir durchaus gegeben. Nun ist aber Das Star Wars Archiv. 1999–2005 in deutscher Sprache erschienen und wie schon beim Erstling sind Sorgen um einen aufgewärmten Kaffee vollkommen unbegründet.

Man kann davon ausgehen, dass Fans, die 150€ für ein Buch in die Hand nehmen (trotz mehr als gegebenem Preis-Leistungs-Verhältnis) mit allergrößter Sicherheit schon alles an relevanter Sekundärliteratur und Nischenprodukten in ihrem Regal stehen haben, um ihr Bedürfnis nach Informationen zu Jedis, Siths, der Rebellion und dem Imperium zu befriedigen. Doch wie schon zuvor haben TASCHEN es mit Leichtigkeit geschafft hier gefühlt die Bibel zu Star Wars zu publizieren, während „vergleichbare“ Bände sowohl haptisch als auch inhaltlich geradezu verblassen. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass hier die seit Jahrzehnten florierende Fanfiction zelebriert wird, die erklärt wie bestimmte Raumschiffe fliegen und woher die Jedi welche Kräfte bekommen. Hier geht es einzig und allein um das Filmprodukt, welches in seiner Größe und Tragweite vermutlich gleich mehrere dicke Schinken füllen könnte. Der Inhalt ist dabei, wie kurz angedeutet, auf keinen Fall schon bekanntes oder nur neu verpacktes Material. Denn neben den bekannten Shots und Promo-Bildern gibt es hier überwiegend unbekannte Drehbuchseiten, Konzeptentwürfe, Storyboards und Fotos von den Sets, die durch Fußnoten in einen Kontext gesetzt werden und dadurch zu einem Verständnis für den Prozess beitragen. Dieser besteht dabei aus deutlich mehr als ein paar Schauspielern, die vor einem Bluescreen mit der Luft reden, wie es diesen Filmen gerne angedichtet wird. Zwar macht George Lucas in dem Band kein Geheimnis aus seiner Affinität zur digitalen Technik, die er bei vorangeschrittener Entwicklung und einem entsprechenden Budget mit aller Sicherheit auch in seinen ersten Streifen verwendet hätte, aber Fans werden sicher überrascht sein wie viel praktisch hergestellt wurde. Zahlreiche Sets, bei denen man hätte schwören können, dass nichts reales auf der Leinwand zu sehen ist, basieren verdammt oft auf kunstvoller Handarbeit und unfassbar langer Vorbereitung.

Doch bevor es ans Eingemachte mit der Einführung des jungen Ben Kenobi und des noch unschuldigen Anakin Skywalker geht, wird überraschenderweise zunächst die Lücke zwischen den beiden Trilogien geschlossen, in der die nicht minder kontroversen Special Editions der Episoden IV bis VI veröffentlicht wurden. Schon hier zeichnete sich ab, was George Lucas nur wenige Jahre später auf Fans und diejenigen, die es noch werden sollten loslassen wollte. Stichworte wären ungewöhnliche Kameras, Bluescreen, etc. Deutlich wird das Ganze in jedem der vier Kapitel (eins pro Film bzw. eins gebündelt für die Special Editions) durch die eingestreuten Aussagen der Beteiligten, von denen sich nur das Gespräch zwischen dem Autoren Paul Duncan (Das Star Wars Archiv. 1977-1938, The Charlie Chaplin Archives, The James Bond Archives) und Regisseur Lucas wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Es hat in dem Sinne etwas von einem Audiokommentar. Die anderen Mitarbeiter werden thematisch platziert und vertiefen die Entwicklungsstufen, wie es schon im Vorgängerband der Fall gewesen ist. Es kommen dabei entsprechend des kreativen und technischen Aufwands primär Menschen zu Wort, die hinter den Kulissen dieses gewaltige Universum aus dem nichts gestampft haben. Dazu gehören bekannte Namen wie Rick McCallum (Produzent), Doug Chiang (Illustrator und SFX-Supervisor), Ryan Church (Konzeptzeichner) oder Ben Burtt (Technik und Sounddesign). Die Schauspieler dürfen zwar selbstverständlich nicht fehlen, nehmen aber entsprechend der Stoßrichtung des Bandes keinen zentralen Standpunkt ein. Was wiederum nicht heißt, dass man keine neuen Erkenntnisse aus ihren Gedanken zur Darstellung ihrer Figuren ziehen kann.

Während man nun den Gedankengängen der Beteiligten folgt, wird ersichtlich wie genau George Lucas wusste wohin die Reise gehen würde. Natürlich stand nicht schon in den 80ern ein genauer Plot fest, der nur noch in ein Drehbuch gegossen werden musste, aber die Figuren und ihre Hintergründe hatten schon so viel Tiefe, dass die Erzählung des Ursprungs geradezu unvermeidbar wirkt. Umso spannender ist es zu sehen wie alte Ideen zur Realität wurden, gänzlich neue Ansätze entstanden und zusammen in einer Symbiose aufgingen, die wir später als Prequel-Trilogie kennenlernen sollten. Zwar muss man sich ein wenig an den sprunghaften Charakter der Erzählung gewöhnen (es ist wirklich mehr ein schriftlicher Audiokommentar als eine chronologische Abfassung), aber da man Das Star Wars Archiv. 1999–2005 auch locker unter dem Begriff „Sachbuch“ einordnen kann, lädt es ohnehin mehr dazu ein bestimmte Aspekte zum Film nachzuschlagen, als es in einem Rutsch durchzulesen.

Was man dabei vor allem, insbesondere infolge des zeitlichen Abstands mitnimmt, ist der revolutionäre Aspekt dieser Filme. Ausgestattet mit dem nötigen Budget, Kontakten und einer Vision hat George Lucas schon in den 90ern gewusst, dass das Kino der Zukunft digital und die richtige Kombination aus praktischen und künstlichen Effekten eines Tages zum Standard werden würde. Damals noch mit Skepsis begegnet, kann man heutzutage davon sprechen, dass Türen für Kreative in der Branche aufgestoßen wurden, die nun den Look und Feel des modernen Films bestimmen. Als Kind habe ich mir nichts bei der Schlacht der Gungans gegen die Droidenarmee gedacht, und den eindeutig digitalen Look von Episode II und III schulterzuckend akzeptiert. Nun zu lesen welche gigantischen Evolutionsschritte diese Filme ausgelöst haben, lässt mich die Trilogie mit einem anderen und vor allem verständnisvolleren Blick betrachten und inspiriert mich in absehbarer Zeit wieder die verstaubten BluRays erneut einzulegen.

Alles in allem muss man TASCHEN dafür danken, dass sie mit Das Star Wars Archiv. 1999–2005 ein Buch herausgebracht haben, welches im Endeffekt die Kernelemente der zahlreichen Making Of-Bände und Begleitpublikationen kombiniert und damit das ultimative Nachschlagewerk darstellt, wenn man sich primär für den Film als Kunstwerk interessiert. Es sei hierbei garantiert, dass man kein inhaltlich tieferes und äußerlich opulenteres Werk findet. In dem Zusammenhang darf man nur darauf hoffen, dass weitere Veröffentlichungen in Planung sind. mit den Sequels, Spin-Offs und Serien sollte zumindest mehr als genug Stoff vorhanden sein.

Das Star Wars Archiv. 1999-2005
Verlag: TASCHEN 
Autor: Paul Duncan
Format: Hardcover, Halbleinen, 41,1 x 30 cm, 6,90 kg
Seitenzahl: 600 
Preis: 150 EUR 

[Rezension] TATTOO. 1730s-1970s. Henk Schiffmacher’s Private Collection (TASCHEN)

Ich bin selbst tätowiert und interessiere mich allein schon aufgrund der „persönlichen Erfahrung“ mit dieser Kunstform für ihre Historie und den weltweiten Einfluss, der seit Jahren zwischen lokalen Traditionen und globalen Trends zu verorten ist. Bis dato gab es jedoch zu diesem Thema nur wenige Publikationen, die man unter seriöser Auseinandersetzung einordnen könnte. Selbstverständlich gibt es weltweit zahlreiche Zeitschriften, oft von den Künstlern selbst veröffentlichte Artbooks und eine insbesondere im Westen erhöhte Akzeptanz von Tattoos. Trotzdem blieb in der klassischen Literatur der Hautmalerei meistens die Nische der Anthropologie oder die Geschichte der Kriminalität. Die erste große Ausnahme, die ich in der Hinsicht zu Gesicht bekam war das beliebte von Henk Schiffmacher herausgegebene 1000 Tattoos, welches bei TASCHEN im Rahmen der Bibliotheca Universalis-Reihe (klein, kompakt und informativ) erschien und bis heute zu den Standard-Auslagen in Tattoo-Studios gehört. Trotzdem fehlte im Verlag, der doch eigentlich seit jeher für Blicke über den Tellerrand bekannt war, ein Werk in der inhaltlichen und physischen Größe, wie es schon anderen Kunstgattungen vergönnt war. Nun ist es aber endlich soweit und TATTOO. 1730s-1970s. Henk Schiffmacher’s Private Collection kann endlich in den Buch-Regalen der Republik gefunden werden. Dank Corona ist das Stöbern durch Läden, die es im Angebot haben könnten aber natürlich eher schwierig. Daher sei an dieser Stelle schon auf taschen.com verwiesen, wo es erstanden und sicher nachhause geliefert werden kann.

Zurück zum Buch. Wem zunächst der Name Henk Schiffmacher nichts sagen sollte, dem sei versichert, dass das Wort Legende alles andere als unangebracht ist. Man kann sagen, dass Tätowierer sich selbst in Handwerker und Künstler aufteilen. Die einen erlernen durch händisches Geschick eine Technik, die sie abhebt und erfolgreich macht, andere brillieren darüber hinaus mit einer kreativen Ader und mit tiefgründigem Wissen um die Arbeit, die sie verrichten. Schiffmacher gehört zur zweiten Sorte und stellt das seit nun über 50 Jahren unter Beweis. Seit den 70ern ist er nicht nur aktiver Tätowierer, sondern auch Besitzer einer der weltweit größten Sammlungen zeitgenössischer und historischer Tattoo-Ephemera. Darüber hinaus könnte er auch Freunden der Rock- und Popmusik der letzten 30 Jahre ein Begriff sein. Unter seinen prominenten Kunden befanden sich nämlich unter anderem klingende Namen wie Anthony Kiedis, Kurt Cobain, Lemmy Kilmister, Adam Levine oder auch Lady Gaga. Allein diese Riege sollte einen Hinweis darauf geben, dass sich Menschen nicht ohne Grund unter seine Nadel begeben. Der ultimative Beweis für seine Relevanz im Hinblick auf die Kunst, die er sammelt und der er sich selbst als Tätowierer verschrieben hat, war die Verleihung des Ritterordens von Oranien-Nassau durch das niederländische Königspaar im Jahr 2017. Dabei handelt es sich um eine der höchsten Auszeichnungen des Landes für Zivilisten. Daher ist es nur folgerichtig, dass der gebürtige Niederländer sich an die aktuell umfangreichste und zeitgleich edelste Veröffentlichung zum Thema Tattoos gemacht hat. Jemand besseres hätte man dafür wirklich nicht finden können.

Schon von Kindesbeinen an war der Amsterdamer fasziniert von Radierungen und Hautbildern, da er sie als Legastheniker auch als Kommunikationsinstrumente verstand, die über Kultur- und Klassengrenzen hinweg zu funktionieren schienen. Man betrachtete die Person, die ihre Geschichte als Tattoos zur Schau trug und konnte dadurch etwas über sie erfahren. Eine Erkenntnis, die ihn dazu trieb die Welt zu bereisen und nicht nur einer simplen Sammelleidenschaft mit exklusivem Themenbezug nachzugehen, sondern die Menschen in unterschiedlichen Kulturkreisen kennenzulernen und zu verstehen. Dabei ist das besagte „kennenlernen“ durch einen Zugang vollzogen worden, dem sich nur wenige Personen öffnen. Daher ist Schiffmachers Blick auf die Welt der Tattoos nicht der eines Außenseiters, sondern Teilnehmers an einem globalen Austausch. Auf seinen Reisen erfuhr er aus erster Hand etwas über die Geschichte eines Handwerks, das sich über Jahrhunderte und ganze Kontinente spannte. Dabei beließ er es nicht nur bei Erzählungen, sondern wollte die Historie wortwörtlich spüren. Darum ist sein Körper nicht einfach nur von lebenslangen Souvenirs, sondern gelebter Geschichte übersät, die er nun in seinem Buch der Öffentlichkeit präsentiert. Hierbei teilt er es in mehrere durch goldfarbene Seiten getrennte Kapitel auf, die zunächst auf Länderebene Tribals in Neuseeland und Samoa, aber auch klassische „Suits“ wie in Japan betrachten. Dabei werden nicht nur Fotografien von Tattoos (entsprechend des Zeitraums ab 1730 verständlich), sondern auch eine Vielzahl an Originalzeichnungen, Instrumenten, Illustrationen, Gemälden und Lithographien präsentiert, die in ihrer Gesamtheit die Tiefe dieser Kunstgattung erfassen. Zeitgleich wirken die Darstellungen in Kombination mit dem Text nie wie ein entrückt anthropologischer Blick auf „das Fremde“, sondern wie ein Rückblick auf etwas, an dem der Autor selbst in seiner Tradition teilnimmt, ohne sich anzumaßen sich die beschriebenen Kulturen aneignen zu können.

Natürlich richtet Schiffmacher seinen Blick aber auch direkt auf die westliche Kultur und ihren anfänglichen Umgang mit Tattoos, als diese zunächst nur einem bestimmten Klientel zugeschrieben und entsprechend sozial assoziiert wurden. Wer kennt nicht die alten Geschichten von „nur Kriminelle und Seemänner lassen sich Bilder unter die Haut stechen“? Nun, eine zeitlang war es der Wahrheit nicht allzu fern und kann durch eine Vielzahl an Flashs und Fotografien bewiesen werden. Natürlich dürfen dabei auch nicht die sogenannten Performer während der durch den Autoren als „Zeit des Exhibitionismus“ bezeichneten Ära fehlen. Eine Zeit in der Menschen aus dem Unterhaltungsgewerbe ihre Haut nutzten, um aus der exotischen Anziehung einen finanziellen Nutzen zu schlagen. Hierbei, wie kann es auch anders sein, waren insbesondere Damen ein beliebtes „Ausstellungsstück“, die im Kontext von Tattoos unüblich viel Haut zeigen und damit eine sexuelle Komponente einbauten, die für das Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als ungewöhnlich war. Natürlich gibt es aber auch einen Ausblick auf das, was noch kommen würde. Die ersten professionellen Tätowierer alter westlicher Schule, Clubs und vieles mehr deuteten schon ab den 1950ern auf eine gewisse Akzeptanz hin, die sich jedoch erst nach der Jahrtausendwende in der Breite der Gesellschaft festigen konnte.

Betrachtet man nun diese Masse an bildlichem und inhaltlichem Input, dann erkennt man, dass dieses gut 440 Seiten dicke Buch nicht nur zur reinen Information dient, sondern wie die Tattoo-Kunst selbst Geschichte, Kunst und persönliche Erinnerung in einem Schmelztiegel zusammenführt. Deswegen gilt die Empfehlung für eine Anschaffung nicht nur für Tätowierer und Tätowierte, sondern auch für all jene Interessenten, die keine Scheuklappen aufsetzen, wenn es um die Auseinandersetzung mit Kunstformen geht, die üblicherweise nicht in Galerien zu bestaunen sind. Ein weiterer kleiner Anreiz ist die Tatsache, dass es sich bei dem Band um eine auf 10.000 Stück limitierte, sowie nummerierte Erstauflage handelt, die ganz der Sammelleidenschaft von Henk Schiffmacher entsprechend, jedes Bücherregal mit seiner Exklusivität verschönert.

TATTOO. 1730s-1970s. Henk Schiffmacher's Private Collection
Verlag: TASCHEN 
Mehrsprachige Ausgabe: Englisch, Deutsch, Französisch
Autor: Henk Schiffmacher
Herausgeberin: Noel Daniel
Format: Hardcover, 29 x 38,8 cm, 6,13 kg
Seitenzahl: 440
Preis: 125 EUR
Limitierung: 10.000 Exemplare (Erstauflage)

[Rezension] Jan Böhmermann: Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020 (Kiepenheuer und Witsch)

Jan Böhmermann ist ein Name, den man spätestens kennt, seit sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2016 zum Richter über guten und schlechten Humor aufgeschwungen hat. Damals wurde in Böhmermanns Sendung „Neo Magazin Royale“ ein Schmähgedicht als Reaktion auf Erdoğans Umgang mit humoristischer Kritik vorgetragen. Grund genug für den autokratisch herrschenden Staatsmann die Justiz auf den deutschen Moderator und Comedian zu hetzen und ihm damit im Nachgang einen immensen Popularitätsschub zu verschaffen.

Doch es wäre unfair ihn auf diese Aktion zu reduzieren, während zahlreiche weitere Coups auf sein Konto gehen, die irgendwo zwischen politisch und sozialkritisch angesiedelt sind und dabei einen ganz eigenen Humor bedienen, der jedoch den Nerv vieler seiner Fans trifft. Dabei schafft er es trotz einer eigenen Sendung und eines Podcasts („Fest & Flauschig“ mit Olli Schulz), der zeitweise das weltweit erfolgreichste Format auf Spotify war, seine Person gekonnt hinter einer Kunstfigur zu verstecken, bei der man sich nie sicher sein kann, welche Aussage ernst oder als Spaß gemeint ist. Dadurch kamen in seiner gesamten Karriere nur sehr wenige private Details an die Öffentlichkeit und der Fokus blieb auf seinem Werk.

Der einzige Ort, an dem regelmäßig der echte Böhmermann zu erahnen ist, ist die Social Media-Plattform Twitter, auf der er seit 2009 und damit schon lange vor seinem Durchbruch aktiv ist. Ein Netzwerk, welches zum damaligen Zeitpunkt nur wenigen Nutzern in Deutschland bekannt war und von Anfang an die bunte Mischung aus Journalisten, Politikern, Personen des öffentlichen Lebens, Entertainern, Trollen und den einfachen Leuten mit einem Faible fürs Socializing bestand. In diesem Sinne eine kleine Parallelwelt, die einige Jahre später in den Händen von Donald Trump sogar zu einem Machtinstrument werden sollte.

Jan Böhmermanns Twitter-Timeline

Hier tobt sich auch der Autor zunächst mit Blödeleien (sein erster Tweet am 16. Januar 2009, 19:34 Uhr: „Hunger!„) aus, bevor seine ersten Interaktionen mit dem Politik- und Medienbetrieb beginnen und sich gezielte mit Humor verpackte Kritik einschleicht. Immer mehr Menschen finden Gefallen am regelmäßigen Output und vermehren sich langsam aber sicher in seiner Follower-Liste, bis sie mit jeder seiner Aktionen geradezu exponentiell wächst und ihm laut aktuellem Stand 2,2 Millionen Menschen beschert, die regelmäßig seine Aussagen lesen. Mit dieser Größe kommt offensichtlich auch eine Verantwortung zustande, da sich zwischen Gag und Provokation immer wieder ernste Töne mischen und Kritik sich ab einem bestimmten Punkt fast ausschließlich auf Menschen mit großer Reichweite bezieht. Ein Millionenpublikum kann nämlich durchaus auch zur Waffe werden und dieser Umstand ist Böhmermann bewusst.

Mit all diesen Fakten im Hinterkopf kam es durchaus überraschend, als er ankündigte, ein Buch veröffentlichen zu wollen, welches sage und schreibe 25.800 seiner Tweets beinhaltet und den Zeitraum zwischen 2009 und Ende Februar 2020 und damit dem Ausbruch von Corona in Europa abdecken soll. Der Gedanke, dass hier einfach das Internet ausgedruckt und dann monetarisiert werden sollte, liegt da garnicht so fern und doch liegt man mit dieser Einschätzung nur bedingt richtig.

Das seit dem 10. September bei Kiepenheuer & Witsch vorliegende Buch „Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020“ beinhaltet tatsächlich die besagten Tweets, aber schon nach den ersten paar Seiten bemerkt man die wahre Stoßrichtung dieser Veröffentlichung. Wie in einer kommentierten wissenschaftlichen Ausgabe, werden Aussagen in den zeitlichen Kontext gesetzt, in dem sie gefallen sind. Dadurch entfalten selbst auf den ersten Blick banale Witze oder Antworten plötzlich eine ganz eigene Dynamik, die den Blick auf eine Chronik unserer Gesellschaft in den letzten 11 Jahren frei gibt. Klingt es zunächst hochtrabend, da man zunächst Böhmermann als Autor bei Harald Schmidt kennenlernt und seine Witze auf Kosten von „Promis“ bis zum Schluss über seine Timeline verteilt sieht, wird der Anteil dieser Gags immer geringer und die Auseinandersetzung mit politischen Entwicklung immer präsenter.

Wie in einer Zeitmaschine erinnert man sich Seite für Seite an schöne und schreckliche Ereignisse, an längst vergessene Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit standen, soziale und politische Scheidewege und vieles mehr. Dabei scheint Böhmermann wirklich viel Arbeit in die Einordnung gesteckt zu haben, denn auch Tweets, die oberflächlich keinen Kontext haben bzw. im Nachgang nicht von alleine zugeordnet werden können, werden mit einer Erklärung von wenigen Sätzen bis ganzen Abschnitten versehen.

Man geht in das Jahr 2009 mit dem ersten afroamerikanischen Präsidenten der USA, hangelt sich an mehr oder weniger großen Events entlang, bis die Taktzahl plötzlich anzieht und man nicht genau weiß, ob die Welt sich angefangen hat plötzlich schneller zu drehen oder ob der Autor sich inhaltlich mehr in das Weltgeschehen einbringt. Flüchtlingskrise, Anschläge, Nazis in den Parlamenten und auf den Straßen, Donald Trump und als Abschluss die uns bis heute beschäftigende Corona-Pandemie. Man blickt verwundert auf die gelesenen Kapitel zurück und begreift, dass dieses Buch bzw. all die Kommentare zum beschriebenen Geschehen im Rahmen ihrer ursprünglichen Entstehung zwar nur spontane Äußerungen eines Mannes am Puls der Zeit sind, sich aber in der gesammelten Rückschau in nichts anderes als eine moderne Chronik des letzten Jahrzehnts manifestieren. Dabei wird zeitgleich ein Brückenschlag aufgemacht, da ein modernes Mittel der Kommunikation und Interaktion in ein klassisches Medium gegossen wird, womit wiederum auch Menschen außerhalb der Blase namens Twitter erreicht werden.

An dieser Stelle könnte man natürlich fragen, ob es nicht auch sinnvoll gewesen wäre ein „richtiges“ Buch zu schreiben, statt schon publiziertes einzuordnen und auf Papier neu aufzulegen. Versucht man sich jedoch von dieser Seite der Thematik zu nähern, missversteht man die Absicht hinter der Aktion, die in ihrem Kern neben dem Inhalt auch in ihrer Form einen Kommentar zu unserer Gegenwart darstellt. Alles andere wären nichts anderes als Gedankengänge eines Entertainers zu den Dingen, die er mitbekommt. Auf die von Böhmermann gewählte Weise löst sich jedoch das Werk vom Autor und der Kunstfigur, die in „Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020“ mit Menschen interagiert und wird zur Lupe, mit der wir 11 Jahre unseres Lebens in der Rückschau betrachten.

In diesem Sinne eine absolute Empfehlung, die überrascht, zum nachdenken anregt und sich nicht nur für Fans von Jan Böhmermann als interessante Lektüre eignet.

Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch 2009-2020 
Verlag: Kiepenheuer & Witsch 
Autor: Jan Böhmermann
Format: Hardcover 
Seitenzahl: 464
Preis: 22 EUR (E-Book: 18,99 EUR)