[Rezension] Secret Empire Paperback (Panini Comics)
Wenn man den Sammelband des Marvel-Megaevents „Secret Empire“ in den Händen hält, ist jedes Superlativ für seine Beschreibung mehr als angebracht. Auf über 400 Seiten wird die auf 11 Hefte aufgeteilte Mini-Serie in einen Fluss gebracht und Lesern wie mir, die die stückweise Veröffentlichung an sich vorbeiziehen haben lassen, in einem Aufguss serviert. Doch ganz ohne Vorbereitung kann mich sich tatsächlich nicht in die Handlung stürzen, denn es wird ein gewisser Grad an Vorwissen aus den Ongoing-Series erwartet, um die vorliegenden Ereignisse zu verstehen. Dafür musste ich mir im Netz als jemand, der selten zu Marvel-Heften greift, einiges anlesen, um einen Durchblick zu bekommen, den man dringend braucht, da vieles nicht explizit erklärt wird.
Daher gibt es im Folgenden ein paar Eckpunkte: Man begegnet im Verlauf der Handlung einem Mädchen namens Kobik, welches jedoch ein aus den Fragmentstücken eines kosmischen Würfels zusammengesetztes Wesen ist und dessen Macht besitzt die Realität von Menschen zu ändern. Noch vor dem vorliegenden Event erschafft sie für die S.H.I.E.L.D.-Leiterin Maria Hill eine Art Geheim-Gefängnis, dass die gefährlichsten Schurken des Marvel-Universums hinter Schloss und Riegel halten soll. Damit die Öffentlichkeit jedoch nichts mitbekommt, wird der Knast als idyllisches Örtchen namens „Pleasant Hill“ getarnt.
Das nicht alles mit rechten Dingen zugeht, haben natürlich auch die Superhelden mitbekommen. Allen voran der neue Captain America namens Sam Wilson und Bucky Barnes aka Winter Soldier, die versuchen in diese nach außen hin sichere „gated community“ einzubrechen. Gleichzeitig stößt auch der inzwischen seinem realen Alter von 90 Jahren entsprechende Steve Rogers (der ursprüngliche Captain America) auf das Geheimnis von S.H.I.E.L.D. Kurz darauf kommt es zu einem Aufstand der Gefangenen, bei dem es zu einem Kampf zwischen Rogers und dem Bösewicht Cross Bones kommt. Doch bevor letzterer dem alten Mann das Lebenslicht ausblasen kann, kommt die schon erwähnte Kobik ins Spiel und verändert die Realität, wodurch Rogers wieder verjüngt und zur alten Form zurückkehrt.
Zeitgleich nutzt Caps alter Erzfeind Red Skull den Moment um Kobik auf seine Seite zu ziehen und durch sie Captain America in seinem Sinne zu formen. In dieser neuen Realität wurde Steve Rogers schon als Kind und damit vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs auf die Seite der Nazis gezogen. Dadurch wird der einstige Kämpfer für die frei Welt zu einem faschistischen Doppelagenten, der im Sinne der Verbrecherorganisation Hydra handelt.
Ihr seht, ein simples eintauchen in die Story ist de facto nicht möglich, was sie für Neueinsteiger, trotz redaktioneller Begleittexte quasi nicht lesbar macht, ABER(!) Fans der regulären Reihe sollten hier ohne Zweifel auf ihre Kosten kommen. Warum? Weil mit der „Umpolung“ von Captain America zeitgleich so viele Steine ins rollen gebracht werden, dass man den Mund vor Staunen nicht mehr zu kriegt. Hinzu kommt, dass man schon lange nicht mehr eine politische Kritik im Superhelduniversum zu sehen bekam, hier jedoch die volle Breitseite abbekommt, die zu keinem Zeitpunkt missverstanden werden kann.
Die eigentliche Geschichte des Bands beginnt damit, dass Steve Rogers die Maske fallen lässt und durch ein ausgeklügeltes Zusammenspiel von Macht-Instrumenten und Intrigen sowohl S.H.I.E.L.D. okkupiert, als auch alle ehemaligen Weggefährten, die ihm gefährlich werden könnten (scheinbar) beseitigt. Doch das ist noch nicht alles. Er schafft es sogar die US-Regierung zu narren und sich selbst an die Spitze der Vereinigten Staaten als faschistischer Herrscher zu setzen. Ich denke, dass bei dieser Beschreibung dem ein oder anderen die offensichtlichen Anleihen an die Realität bewusst werden. Der entscheidende Unterschied ist wohl, dass Captain America, in seiner verdrehten Weltsicht im Kern trotzdem nur das Beste für die Bevölkerung der USA möchte. Doch so einfach lassen sich die Helden des Marvel-Universums nicht abspeisen und ziehen gemeinsam gegen ihren einstigen Weggefährten in die Schlacht…
Dieser Cocktail aus klassischem Superhelden-Gekloppe, politischer Message und der Tatsache, dass eine Figur, die bis heute mit ihrem Kampf gegen Nazi-Deutschland assoziiert wird, plötzlich auf der Seite einer faschistischen Organisation steht, ist ein Kunstgriff, den es braucht um heutzutage eine Story abliefern zu können, die als relevant bezeichnet werden darf. Natürlich bleibt die Handlung von Nick Spencer, trotz vordergründiger Tiefe, in ihrem Kern eine klassische Marvel-Episode. Das Spiel mit der Grenzüberschreitung, die Länge der Handlung, die die Figuren aus ihrer Eindimensionalität holt und die damit einhergehende Komplexität machen „Secret Empire“ trotzdem zu einem kleinen Prunkstück, dass in eine gut sortierte Comic-Sammlung gehört. Dieses Event wird so gut wie sicher zu einem neuen Referenzpunkt, auf den sich Fans, Künstler und Interessenten beziehen werden.
Auch visuell wird das Ganze entsprechend der Ernsthaftigkeit der Themenfelder passend umgesetzt. Neben Steve McNiven und Rod Reis sticht dabei besonders Andrea Sorrentino mit seinem abstrakten Strich und ungewöhnlichem Panel-Aufbau hervor, die in Kombination eine Bildprache hervorbringen, die sie heutzutage nur wenige Künstler beherrschen. Wer seine Arbeit an Jeff Lemires „Old Man Logan„-Reihe kennt, weißt wovon ich rede.
Alles in allem ist „Secret Empire“ ein spannender Band, der jeden Marvel-Fan verzücken sollte, jedoch einiges an Vorwissen verlangt. Zwar kann man sich dieses durch redaktionelle Texte innerhalb des Sammelbands aneignen, jedoch gehe ich davon aus, dass das Lesevergnügen durch einen Griff zur Vorgeschichte um einiges gesteigert werden kann. Ich für meinen Teil wurde wunderbar unterhalten und wieder dazu angeregt öfter mal in die Sphären von Marvel abzutauchen. An dem vorliegenden Beispiel sieht man: Es lohnt sich!
Secret Empire Paperback Verlag: Panini Comics Autor: Nick Spencer Zeichner: Andrea Sorrentino, Steve McNiven, Rod Reis Erschienen am: 29.01.2019 Format: Softcover Seitenzahl: 412 Preis: 38 EUR