Das DDR-Handbuch

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Wenn man sich heutzutage die Berichterstattung aus den „neuen Bundesländern“ ansieht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass gewisse Verhaltensweisen, Gedankengänge und der Umgang mit verschiedenen Situationen anders ausgedrückt werden, als man es vom Rest Deutschlands gewöhnt ist. Dabei herrscht insbesondere deswegen große Verwunderung, weil die sogenannte Wende nun fast 30 Jahre zurück liegt und es neben wirtschaftlichen Diskrepanzen auch auf sozialer und bisweilen kultureller Ebene Unterschiede festzustellen sind.

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Plakat der Jungen Pioniere, Pioniergruppe Kl. 1a der August-Bebel-Oberschule, 1981, 42 x 30 cm; ©The Wende Museum/TASCHEN

Als Außenstehender will sich einfach kein Bild im Kopf zusammenfügen, das erklären würde, wie es sein kann, dass nach so langer Zeit keine homogene Gesellschaft entstehen konnte. Hinzu kommt das Phänomen der „Ostalgie„, die so ziemlich alles umfasst, dass das Leben hinter der Mauer definiert hat und selbst die negativsten Aspekte des Unrechtsstaats in einem sanften Licht erscheinen lässt.

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Zwangsjacke, NS-Zeit, später in der DDR benutzt, 1940er–1980er, Franz-August Mühlenfeld, Barmen (Stoff, Leder, 85 x 76,5 cm); ©The Wende Museum/TASCHEN

Um sich besser in die mentale Lage eines ehemaligen Bewohners der DDR hineinzuversetzen zu können, ohne jedes Wort zu politisieren, brauchte es wohl eines Buches, dass so etwas wie ein authentische Lebensbild zu konstruieren weiß: Das DDR-Handbuch*, dass nun als günstige Neuausgabe (29,99€; Originalausgabe für 99,99€) in den Handel kommt.

Dieses beinhaltet rund 2.000 Artefakte aus der DDR, die sich von Designobjekten, Alltagsgegenständen, Werbung, Mode bis hin zu Stasirelikten und Propaganda erstrecken und damit den realen Alltag im Arbeiter-, Bauern– und Bonzenstaat abbilden. Das besondere daran, neben der Tatsache, dass mit dieser Ausgabe der umfassendste Überblick über die visuelle und materielle Kultur der DDR vorliegt, ist der Ort, an dem diese gigantische Sammlung zu finden ist und ausgestellt wird: Das Wendemuseum in Los Angeles!

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Plakat, „Kämpft für den Frieden!“, 57,5 x 41,5 cm; ©The Wende Museum/TASCHEN

Es brauchte wohl erst einen Ort, der physisch als auch mental so weit weg vom Ort des dargestellten Geschehens ist, bis man ohne einen erhobenen Zeigefinger die Überbleibsel eines untergegangenen Unrechtsstaates präsentieren konnte, in dem Menschen lebten, deren Umwelt genau durch diese in dem Band abgebildeten Gegenstände bestimmt wurde. Daher ist es auch wichtig sich bewusst zu machen, dass Überwachung, Indoktrination und Misswirtschaft zwar essentiell, aber im täglichen Miteinander eine untergeordnete Rolle spielten, außer man machte sich „verdächtig“ oder stellte sich ganz offen dem Regime entgegen. Am Ende wird man sich aber, wie auch wir, an die Gerichte auf dem Tisch zuhause, den Geschmack bestimmter Getränke, den Geruch der Umgebung, die Spielsachen, die Architektur und so viel mehr erinnern, das sich außerhalb des politischen Spektrums abspielte.

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Fotochrombilder aus „Uniformen der Nationalen Volksarmee der DDR 1956–1986“, 1990, Klaus-Ulrich Keubke/Manfred Kunz; Brandenburgisches Verlagshaus, Berlin, 22,5 x 20 cm; ©The Wende Museum/TASCHEN

Das DDR-Handbuch*, welches vom eben genannten Wendemuseum in Zusammenarbeit mit TASCHEN herausgegeben wird, versucht beide Seiten der Medaille zu beleuchten, die sowohl witzig, als auch tragisch sein können. So findet man mit jeweils einer Einleitung und immer mit einer Bildunterschrift zu jedem abgebildeten Objekt , das so banal sein kann wie eine Zigarettenpackung oder eine Speisekarte, aber auch die an die Totalität des Staates erinnernde Abhörapparate und Militäruniformen umfassen kann. Dabei beschränkt sich das Buch nicht ausschließlich auf offen zugängliche Materialien, die man als Besucher im Ostblock  mal mehr oder weniger offen begegnet wäre, sondern auch auf Dinge aus dem privaten Umfeld der Bewohner. Seien es die berühmten Essensmarken, mit denen man sich in die vielen typischen Schlangen gestellt hat, Fotografien von Familienfeiern und Ausflügen, aber auch oppositionellen Ausdrucksformen, die im Wunsch nach Freiheit entstanden sind. Außerdem Bestände aus den Archiven der Polizei und der Stasi, die penibel genau aufzeichneten, was man eventuell aus dem Westen hineinschmuggeln wollte und damit gleichzeitig zu verstehen gab, an was es auf heimischem Boden fehlte.

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Koffer, verwendet bei Passkontrolle und Grenzschutz, 1980er (Leder, Metall, Plastik, 14 x 35,5 x 27 cm)
Dieser Aktenkoffer war im Wesentlichen ein tragbares Passbüro und enthielt ein ganzes Arsenal an Stempeln und Spezialtinten, mit dem die Grenzposten die Reisedokumente überprüfen und Visa aktualisieren konnten.; ©The Wende Museum/TASCHEN

Natürlich werden auch Aufnahmen und Gebrauchsgegenstände im Zusammenhang mit offiziellen Anlässen wie Staatsfeiern, Sportveranstaltungen und weiteren Propaganda-Events berücksichtigt, um ein lückenloses Bild dessen zu präsentieren, was die DDR in ihrer Gesamtheit ausmachte. Eben dieser breite Blick macht deutlich, warum so eine Sammlung niemals hätte in Deutschland ihren Platz finden könnte, geschweige denn das objektive Interesse an inzwischen historisierten Tatsachen entfachen hätte können.

Das diese Veröffentlichung einen seriösen, mit Hingabe zum Detail ausgearbeiteten Hintergrund hat, wird dem Leser dabei auf den über 800 Seiten stets bewusst vor Augen geführt. Insbesondere wenn führende Akademiker und Experten aus Europa, Kanada und den USA zu Wort kommen, um ihr Wissen weiterzugeben, welches nicht bei der Stasi aufhört, sondern sich auch über Felder wie Sexualität, Denkmäler und mentalen Landkarten erstreckt. Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil es sich zwar um einen deutschen Staat handelte, er aber durch 40 Jahre Kalten Krieg eine komplett andere Sozialisation erfahren hat, als die Bundesrepublik. An dieser Stelle sollte auch den Letzten klar sein, warum sich die eingangs erwähnten Unterschiede bis dato halten konnten. Natürlich haben Osten und Westen eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Vergangenheit, aber allein schon an dieser für historische Verhältnisse kurzen Episode der räumlichen Trennung ist abzulesen, dass die Gesellschaft kein statisches Konstrukt ist und durch so vieles mehr bedingt wird, als es zunächst den Anschein hat.

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Foto, DDR-Grenzschutz, Oktober 1961, Stasi-Hauptabteilung VI, Berlin, 30 x 21 cm; ©The Wende Museum/TASCHEN

Daher stellt das DDR-Handbuch* nicht nur einen interessanten Einblick in die Lebenswelt des sozialistischen Staats dar, sondern bietet auch die Möglichkeit, zumindest in Teilen ein Verständnis dafür aufzubringen, wieso eine Wiedervereinigung nur auf dem Papier nach dem Mauerfall umgesetzt werden konnte, aber bis heute andauert.

In diesem Sinne ist dieser Band eine Empfehlung an alle, die sich neben historischen Kontexten auch für die Sozialgeschichte eines Landesteils interessieren, der dazugehört, aber noch nicht ganz angekommen ist.

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5 Kommentare

  1. Ossiblock · Dezember 3, 2017

    Zumindest ein guter Tip. Bin gespannt, wie es wirklich in der DDR war.

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  2. Ossiblock · Dezember 3, 2017

    Dir gefällt mein Kommentar so sehr, daß du ihn nicht freischaltest. Merkwürdig.

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    • ZOMBIAC · Dezember 3, 2017

      Hab es so eingestellt, dass es in zwei Schritten geschehen muss. Sorry! 😉

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  3. simonsegur · Dezember 13, 2017

    Hab’s mir bestellt, herzlichen Dank für diesen Tipp! Die Brillen von Ost und West sind ja nach wie vor mit unterschiedlichen Dioptrien eingestellt, insofern bin ich dankbar für solch einen Objekt(iven)-Blick!
    Liebe Grüße!

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    • ZOMBIAC · Dezember 13, 2017

      Klar, sehr gerne! Ich war auch positiv überrascht. Es wird zu keinem Zeitpunkt unterschlagen, dass die DDR ein lupenreiner Unrechtsstaat war, aber durch den Fokus auf den Alltag (insbesondere durch die Masse der dargestellte Gegenstände) wird die Lebenswirklichkeit der Bewohner nicht allein auf diese politische Ebene reduziert. Viel Spaß bei der Lektüre! 🙂

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